Schüler aus München:Verschollen auf dem Weg in den Dschihad

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Gaziantep nahe der türkisch-syrischen Grenze war Erkans Zwischenziel. Hier endete seine Reise im Juli. (Foto: Imago)

Ein 13-Jähriger macht sich aus München auf, um für den IS zu kämpfen. In der Türkei wird er gestoppt - und verschwindet.

Von Katja Riedel, München

Vor Erkan liege noch ein langer Weg. Das mutmaßten Münchner Ermittler und Sozialarbeiter, als sie glaubten, einen damals knapp 14-Jährigen vor dem schwersten Fehler seines Lebens bewahrt zu haben. Vor dem Schritt über die Grenze, nach Syrien, auf das Gebiet jener Terrormiliz, die sich "Islamischer Staat" (IS) nennt und der er sich als Kämpfer anschließen wollte.

Im Juli hatte die türkische Polizei Erkan aus München in einem Internetcafé am Busterminal der türkischen Grenzstadt Gaziantep verhaftet, wo er einen Schleuser verpasst hatte und auf der Suche nach einem neuen Reisehelfer an das gefälschte Internet-Profil eines deutschen Journalisten geraten war. Der hatte umgehend deutsche Sicherheitsbehörden alarmiert und ihn gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt (BKA) in einen Chat verwickelt, bis die Handschellen der türkischen Kollegen klickten. Jetzt ist Erkan, der in Wahrheit anders heißt, verschwunden.

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Eigentlich hatten alle erwartet und darauf hingewirkt, dass der inzwischen 14-Jährige jetzt, am Jahresende, längst in therapeutischer Behandlung in München sein werde. Er sollte wieder in der Obhut des Stadtjugendamtes sein, das ihn zuletzt in eine Jugendhilfeeinrichtung in Dachau eingewiesen hatte.

Doch Recherchen der Süddeutschen Zeitung und des Dschihadismus-Blogs Erasmus Monitor haben ergeben, dass Erkan immer noch in der Türkei ist. Laut bayerischem Innenministerium soll er sich wohl in einer geschlossenen türkischen Jugendhilfeeinrichtung befinden, ganz sicher scheint man sich aber nicht zu sein. Auch ein Sprecher des Münchner Sozialreferats, das nach ihm über den Internationalen Sozialdienst (ISD) fahnden lässt, sagt: "Wir wissen nicht, wo er ist".

Nach SZ-Informationen sollen das auch türkische Behörden dem ISD als Auskunft mitgeteilt haben. Weil Erkan, der in Deutschland geboren ist, keinen deutschen Pass hat, kann sich die Deutsche Botschaft nicht für seine Rückkehr einsetzen. Und weil seine Eltern unterschiedliche Nationalitäten haben, ist unklar, welchen Pass er hat. Die deutschen Behörden, die sich später wieder um ihn kümmern wollen, sind derzeit nicht zuständig. Das Polizeipräsidium München hat über das Bundeskriminalamt Anfragen an die türkischen Behörden gestellt, um Erkan zurückzuholen. "Bislang ist jedoch nur bekannt, dass das türkische Justizministerium zuständiger Ansprechpartner ist", heißt es aus dem Innenministerium.

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Es ist nicht der einzige deutsche Fall, bei dem der Kontakt zwischen deutschen und türkischen Behörden stockt. So zeigten sich etwa Ermittler im Fall Valentina S. aus Mönchengladbach verwundert, dass die türkische Polizei keine Informationen bei den deutschen Kollegen abriefen, obwohl sie nach Valentina und ihrer Freundin Merve D. sowie deren türkischen Ehemännern landesweit als mutmaßliche künftige Selbstmordattentäter fahndeten. Die Mutter von Erkan soll sich in der Türkei eigene Anwälte genommen haben, um ihn auf diesem Weg zurück zu holen.

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Eile ist in solchen Fällen geboten. Wissenschaftliche Studien, die Radikalisierungsgeschichten auswerten, haben gezeigt, dass es nur enge Zeitfenster gibt, in denen Jugendliche und Erwachsene für eine Umkehr ansprechbar sind. Selbst wenn Therapeuten frühzeitig erkennen, dass Jugendliche in salafistische Kreise abgleiten, fällt es schwer, sie aus den sektenartigen Strukturen und Denkweisen herauszuholen. Um Jugendliche wie Erwachsene vor Extremismus zu schützen oder eine Chance zu haben, sie wieder zurückzuführen, haben sich zuletzt sowohl in der Stadt München als auch im Freistaat Strukturen gebildet. Der Freistaat hat ein Netzwerk zur Deradikalisierung eingerichtet, das aus dem Polizeihaushalt finanziert wird und bei dem es unter anderem mit dem Berliner Verein Ufuq zusammenarbeitet.

Ungewöhnliches Alter, typischer Lebenslauf

Mehr als 750 Deutsche haben sich nach offiziellen Angaben dem bewaffneten Kampf in Syrien und Irak angeschlossen, etwa 300 sind zurückgekehrt, doch die Dunkelziffer dürfte Sicherheitskreisen zufolge hoch sein. Unter den Ausgereisten sind Dutzende Minderjährige - wie viele genau, ist nicht bekannt. Doch Erkan aus München gehört deutschlandweit zu den Jüngsten.

So ungewöhnlich sein Alter, so typisch ist sein Lebenslauf, der vielen anderer Jugendlicher ähnelt, die sich aus ihren Kinderzimmern aufgemacht haben, um sich dem anzuschließen, was sie für einen heiligen Krieg halten. Für den IS sind sie weniger als Kämpfer interessant denn als Propagandawaffen, mitunter aber auch als mögliche Attentäter. Erkan ist ohne Vater aufgewachsen, hat in seinem Elternhaus kaum religiöse Erziehung erfahren, spricht kaum türkisch.

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Mit Beginn der Pubertät gab es zunehmend Probleme, eine Verwandte nahm sich Erkans an - und leitete ihn an. Sie gab ihm salafistische Lektüre und Ideen an die Hand, die ihn schon bald an den Stand der Koranverteilungsaktion "Lies!" brachten. Dort tauchte er im Mai auf, in der Münchner Fußgängerzone und an der Seite des Lies-Initiators Ibrahim Abou Nagie. In der Jugendhilfeeinrichtung, in der er inzwischen lebte, weil seine Mutter sich Hilfe suchend an das Jugendamt gewandt hatte, fiel seine immer stärkere Radikalisierung auf. Dort soll er auch Werbung für einen radikalen Islam gemacht haben - doch auch den Betreuern gelang es nicht, ihn davon abzubringen.

Ende Juli verschwand er dann, im Gepäck den gestohlenen Pass eines Münchner Deutsch-Türken. Gemeinsam mit der Verwandten, die in Syrien einen IS-Kämpfer heiraten wollte, reiste er mit dem Zug in Richtung Türkei. Während sie kein Visum bekam, konnte er einreisen. Über Istanbul fuhr er wie viele andere europäische IS-Kämpfer mit dem Bus nach Gaziantep, wo es viele Helfer der Terroristen gibt. Nur ein glücklicher Zufall und der Umstand, dass viele Sicherheitsbehörden und Journalisten falsche Profile im Internet betreiben, konnten Erkan stoppen. Doch der Weg zurück scheint deutlich länger als gedacht.

© SZ vom 10.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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