Schnitzeljagd:Minimal-Art für kleine Leute

Der New Yorker Künstler Charles Simonds baut in Münchner Mauerritzen hinein winzige Lehmhäuser. Wo genau, verrät er nicht

Von Jutta Czeguhn

Ein Kunst-Workshop an der Willy-Brandt-Gesamtschule im Hasenbergl. Ein Kind fragt den Mann aus New York: "Können Sie sich vorstellen, diese Arbeit einmal nicht mehr zu tun?" Noch Tage später, da sitzt Charles Simonds zusammen mit seinen Kuratorinnen Beate Engl, Luise Horn und Stephanie Weber sowie etlichen Presseleuten in der Stadtbibliothek im Viertel, spürt man, wie ihn diese Frage beschäftigt hat. Er will sie nun beantworten: "Nein, ich werde nie damit aufhören, es gibt noch so viel zu entdecken in der Welt der Little People."

Man muss kurz ausholen, um das alles zu erklären. Charles Simonds ist also in München, noch bis Ende Juli. Und macht dort, was er seit mehr als 45 Jahren mit der ihm eigenen sanften Beharrlichkeit tut, ob in der Lower East Side von Manhattan, in Shanghai, Paris, London oder Jerusalem: Er baut Wohnungen, auf Englisch "Dwellings". Simonds ist kein Architekt, schon gar kein gierschlundiger Investor. Der Sohn zweier Wiener Freudianer, Jahrgang 1945, schafft Wohnraum aus Ton für die "Little People", eine imaginäre Mini-Zivilisation, die sein Privatuniversum bevölkert. Entsprechend winzig sind die Behausungen. Sein Liliput kann überall entstehen, auf einem Mauervorsprung, einem Fensterbrett. Dieser Tage ist Simonds in Schwabing unterwegs. Wo genau er seine Minimal-Art-Baustelle einrichten wird, verrät er nicht. Die Münchner sollten also mit wachen Augen durch ihre Stadt gehen.

Das Kulturreferat hat den Künstler für das Projekt "Dwelling Munich" eingeladen, weshalb Kulturreferent Hans-Georg Küppers persönlich in die Stadtbibliothek im Hasenbergl kam, um dem Künstler zu versichern, wie "stolz" man sei, ihn in der Stadt zu haben. Was auch angebracht ist, denn der Amerikaner könnte, wäre er nicht ein so bescheidener, unprätentiöser Mensch, mit seiner künstlerischen Vita ziemlich auftrumpfen: Einzelausstellungen im New Yorker Guggenheim, im Jeu de Paume in Paris, Teilnahme an der Biennale in Venedig, an der Documenta, seine Arbeiten finden sich in den Sammlungen im MoMa, im Whitney Museum in New York, im Centre Pompidou. Zusammenarbeit mit Künstlern wie Sol Lewitt oder Stanley Fish, Schwiegerenkelsohn von Marc Chagall. Noch mehr Name-Dropping gefällig?

Der Mann im grauen Schlabber-T-Shirt, hellwach und agil, nimmt Ehrenbezeugungen wie die von Küppers fast etwas verlegen entgegen. Das alles scheint ihm nicht der Erwähnung wert, viel lieber möchte er über seine Little People sprechen, vor allem über die kleinen Leute, die er in München bislang kennengelernt hat. Beispielsweise die Kinder vom Hasenbergl, die laut ihrer Kunsterzieherin Silvia Wienefoet augenblicklich von Charles Simonds verzaubert waren. 50 Schüler wollten unbedingt an den winzigen Ton-Landschaften mitwerkeln, zu viele, das Los musste entscheiden. Unter den Glücklichen waren Ceren, 11, und Elham, 10. Die beiden haben ein Schloss ohne Dach gebaut. So wie bei einem traditionellen Riad, den sie im Urlaub in Marokko gesehen habe, erzählt Ceren. Sie stellt sich vor, dass im Schloss ihre ganze Klasse wohnt, die wie eine "große Familie" für sie sei. Ein anderes Kind, berichtet Charles Simonds, habe einen panic room, einen Sicherheitsraum gebaut, in den man flüchten kann. In jedem seiner Münchner Workshops, ob mit Kindern im Hasenbergl oder Schülern von Wittelsbacher- und Gisela-Gymnasium, war der Künstler von der Fantasie der Kinder beeindruckt. Zum Teil hatten sie zuvor noch nie Ton in der Hand.

Charles Simonds versteht seine Kunst, mit der er so subtil im öffentlichen Raum agiert, nicht explizit politisch, auch wenn es um Themen wie Behaustheit, Heimat, Wohnungspolitik, Spekulantentum, urbane Verwahrlosung, ethnische Diskriminierung geht. Als er Ende der Sechzigerjahre in der rauen, heruntergekommenen Lower East Side von New York mit seinen Mini-Dwellings begonnen habe, erzählt er, hätten die Menschen instinktiv verstanden, was dieser seltsame, weiße Typ da treibe: "Die Little People, das sind wir." Für die Leute in der Lower East Side sei er deshalb eine Art Prophet gewesen. Auch eine Hure in einem nicht so romantischen Teil von Genua habe sich sofort mit den merkwürdigen kleinen Lehmhütten identifiziert, für sie sei dies ein beinahe religiöser Ort gewesen. Sie habe dort Kerzen aufgestellt und wie ein Cerberus über den Dwellings gewacht: Non toccare! Nicht berühren!

In München will Charles Simonds etliche Dwellings bauen. Auch wenn es in dieser Stadt etwas schwierig sei, sagt er, eine kaputte Mauer zu finden, in die er seine winzigen Häuser setzen kann. Er hat die Stadt bereits erkundet, mit allen Sinnen, vor allem der Nase. Eine "Baugenehmigung" wird der Künstler nicht einholen, das tut er nie. Ein Dwelling hat Simonds bereits am Giesinger Bahnhof gebaut, auf einem Fenstersims. Die Passanten hätten ihn neugierig aus höflicher Distanz beäugt, jedoch keine Fragen gestellt. Einen Tag arbeitet er an einer Mini-Behausung, dann sagt er "good bye" und überlässt sie den Little People. Und den Großen. Das Giesinger Dwelling hat jemand bereits nach einem Tag feinsäuberlich entfernt und mitgenommen. Charles Simonds, dieser freundliche älterere Herr, würde nie darum bitten. Also tun wir es: Bittschön, lieber Kunst-Dieb, stellen Sie es wieder dorthin!

"Dwelling Hasenbergl" von den Schülern, bis 18. Juni in der Stadtbibliothek, Blodigstraße 4, "Dwelling Munich" von Charles Simonds vom 6. bis 30. Juli im Kunstraum München, Holzstraße 10. Wer im Stadtraum ein Dwelling entdeckt, kann ein Foto auf der Facebook-Seite des Lenbachhauses posten.

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