Schizophrenie:Ein Leben in zwei Welten

Wulf-Peter Hansen leidet seit Jahrzehnten an Schizophrenie. Mit Medikamenten hat er die Krankheit heute im Griff, und mehr als das: Er berät Patienten, hält Vorträge und ist im Fernsehen zu sehen.

Judith Kösters

In der Klinik wissen sie manchmal nicht, ob sie ihn nun duzen oder siezen sollen. Für erwachsene Patienten gilt das "Sie", in der Psychiatrie genauso wie auf jeder anderen Station im Krankenhaus. Dann gibt es aber das Kollegen-Du zwischen Pflegern, Sozialpädagogen und den meisten Ärzten im Team.

Schizophrenie: In seinem psychotischen Wahn glaubte Wulf-Peter Hansen fest, er sei Jesus Christus und müsse die Welt vor einem drohenden Atomkrieg warnen.

In seinem psychotischen Wahn glaubte Wulf-Peter Hansen fest, er sei Jesus Christus und müsse die Welt vor einem drohenden Atomkrieg warnen.

(Foto: Foto: SZ/Hess)

Einerseits ist Wulf-Peter Hansen Patient: Mit 21 Jahren kam er selbst zum ersten Mal mit einer schizophrenen Psychose in Behandlung. Jetzt ist er 46, und die Krankheit begleitet ihn bis heute. Nur mit starken Medikamenten hat er sie im Griff. "Trotzdem bin ich im Klinikum rechts der Isar heute Mitarbeiter und kein Patient", beharrt er.

In seiner Sprechstunde redet Hansen jede Woche mit Schizophrenie-Patienten über ihre Krankheit und darüber, wie man damit leben kann. "Die Ärzte können zwar die Symptome genau deuten und wissen, wie man sie behandelt, aber sie kennen die Krankheit eben nur von außen", sagt er.

Er war überzeugt: Ich bin Jesus Christus

Anders als die Ärzte weiß Hansen sehr genau, was es bedeutet, in einem psychotischen Wahn zu leben. Er erinnert sich noch gut an den Tag vor mehr als 25 Jahren, als die Krankheit bei ihm voll ausbrach. Am 5. Oktober 1980 war es. "Das ist merkwürdig", sagt er, "am 10.5. bin ich geboren und am 5.10. kam meine Krankheit".

Wulf-Peter Hansen war damals überzeugt, dass er der wiedergeborene Christus war und dass ein Atomkrieg unmittelbar bevorstand, der die Welt vernichten würde. Um die Menschen zu warnen, tanzte und sang er an diesem 5. Oktober auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof.

Fünf Tage lebte er da schon völlig in seinem Wahn, hatte weder geschlafen noch gegessen oder getrunken. Seine langen Haare hingen wirr herunter, seine Hose war urindurchtränkt, was an einer Katatonie lag, einer Art extremer Muskelstarre, die Symptom einer Schizophrenie sein kann.

So hat ihn die Bahnhofspolizei aufgegriffen. Die Beamten nahmen ihn mit auf die Wache und ließen ihn in einer Ausnüchterungszelle erstmal schlafen. Wer er sei, wollten sie wissen. "Jesus Christus", antwortete er, für ihn war das die Wahrheit.

Erst als einer der Polizisten merkte, wie ausgehungert der junge Mann aussah, den sie da mitgenommen hatten, und ihm sein Pausenbrot anbot, da kam Hansen ihm plötzlich entgegen. "Soll ich Ihnen auch meinen bürgerlichen Namen verraten?", fragte er, "Wulf-Peter Hansen".

Nicht die Persönlichkeit, sondern die Wahrnehmung ist gespalten

Heute muss er lachen, wenn er die Szene erzählt. Seine sanfte Stimme kippt dann plötzlich in ein raues Raucher-Lachen, er muss ein wenig husten. Aber schnell wird er wieder ernst, und sein Ton ganz behutsam.

Viele Menschen würden ja glauben, dass sich bei einem schizophrenen Menschen die Persönlichkeit spalte, sagt er, aber das sei Unfug: "Was sich spaltet, ist die Wahrnehmung." Als lebe man in zwei Welten: in einer Wahn-Welt und in der Realität.

In einer akuten psychotischen Phase erscheint nur die Wahnwelt real. "Die wirkliche Realität dagegen nimmt man zwar wahr, aber man glaubt ihr nicht", versucht Hansen zu erklären. Deshalb wusste er, dass der Polizeibeamte den Namen wollte, der in seinem Pass stand, auch wenn er diese Welt nicht ernst nehmen konnte.

Die Idee, dass er Jesus Christus war, hatte sich allmählich in seinem Kopf entwickelt. Gedankenketten wie die folgende tauchten auf: Jesus ist der Menschensohn, also der Sohn von Menschen. Ich bin auch der Sohn von zwei Menschen, also bin ich Jesus.

Am Anfang dachte er solche Gedanken und schob sie irritiert wieder beiseite. Dann kam die Idee öfter, wurde stärker und irgendwann zu einer Überzeugung: Ich bin Jesus Christus. Er lief durch die Straßen und segnete Passanten.

Er hatte auch Halluzinationen, sah zum Beispiel grünen Dampf aus Kaffeemaschinen aufsteigen. Außerdem hatte er das Gefühl, er könne an der Ausstrahlung von Leuten merken, wer dunkle "böse" Augen hatte, was ihn einmal in Todesangst versetzte.

"Man kann Nicht-Betroffenen unmöglich erklären, wie sich eine Psychose anfühlt", sagt Wulf-Peter Hansen, "man kann nur versuchen, es annähernd zu beschreiben."

Ein Leben in zwei Welten

Ein Raunen im Saal

Die Krankheit zu beschreiben - das ist inzwischen sein Job. Neben der Patienten-Beratung tritt er immer wieder vor Schulklassen, bei öffentlichen Veranstaltungen oder Tagungen auf.

Durch seine Arbeit ist er inzwischen zu einer Art Medienexperte geworden: Einmal haben sie einen Beitrag über ihn für die heute-Nachrichten gemacht, dann einen Bericht auf RTL. Im Herbst wird er als Gast in der Kerner-Show im ZDF auftreten.

Für seine Arbeit an der Klinik hat Hansen sich inzwischen eine Menge Fachwissen angeeignet. Wie Vokabeln hat er sich die komplizierten Namen der antipsychotischen Wirkstoffe eingeprägt. "Levomepromazin" zum Beispiel war zuerst schwierig zu merken. "Das ist ein niederpotentes Neuroleptikum", rezitiert er.

Dann erklärt er, wie die wichtigsten Medikamente gegen Schizophrenie funktionieren: Sie beeinflussen im Gehirn das durcheinander geratene System der Botenstoffe Dopamin und Serotonin. Das klingt plötzlich so sachlich, als wäre die Krankheit etwas völlig Abstraktes.

Doch seine eigenen Medikamente liegen mitten auf dem Küchentisch: Ein Kästchen mit vier Schubladen, auf denen die Tageszeiten stehen, darin lauter Pillen und Tabletten. 15 Präparate muss Hansen regelmäßig einnehmen, um keinen neuen Schub zu bekommen.

Die kleinen grünen, die in fast jeder Schublade liegen, sind Haldol, ein starkes Antipsychotikum. 90 Milligramm davon nimmt Hansen täglich, zusätzlich bekommt er alle drei Wochen eine Haldol-Spritze. Das ist weit mehr als die empfohlene Höchstdosierung. "Wenn ich auf Kongressen davon berichte, geht ein Raunen durch die Menge", sagt er, fast ein bisschen stolz.

Nach dem ersten Schub mit 21 Jahren hatte er immer wieder Rückfälle. Fünf Jahre seines Lebens hat er insgesamt in psychiatrischen Kliniken verbracht, das hat er einmal ausgerechnet. Vor neun Jahren hat er dann in München einen Arzt gefunden, der mit der Zeit die optimale Kombination von Medikamenten für ihn herausgefunden hat: Seitdem ist die Krankheit nicht mehr ausgebrochen.

Selbst die Nebenwirkungen sind mit der Zeit verschwunden, außer einer: der Gewichtszunahme. Unter dem weiten Strickpulli trägt Wulf-Peter Hansen einen kleinen Bauch vor sich her.

Traumberuf: Psychiater

Bevor er krank wurde, wollte Wulf-Peter Hansen Psychiater werden. Sein Vater war Arzt für Innere Medizin. Einmal lieh er sich von ihm ein medizinisches Fachbuch aus, von 1912, und las darin über eine Krankheit namens Schizophrenie. Das fand er faszinierend.

Als Jugendlicher war er dann lange wegen Depressionen in Behandlung. In den Kliniken kam er mit Schizophrenen in Kontakt. "Das ist wenigstens eine handfeste Diagnose", dachte er damals.

Die Mitarbeit in der Klinik gibt Hansen ein Selbstbewusstsein, das er lange nicht hatte. "Ich musste ja sagen: Ich bin arbeitslos". Bevor er krank wurde, war er Krankenpflegehelfer, zwischen seinen Schüben war es schwer, regelmäßige Arbeit zu finden.

Seit vier Jahren arbeitet er nun in der Klinik - ehrenamtlich zwar, aber er bekommt eine Aufwandsentschädigung von zehn Euro pro Stunde, zusätzlich zu seiner kleinen Rente.

"Dass es mir seit Jahren so gut geht mit meiner Krankheit, liegt sicher nicht nur am richtigen Medikamenten-Mix", meint Hansen. Er achtet sehr genau darauf, was ihm gut tut und was nicht. Er vermeidet es zum Beispiel, sich von Sinneseindrücken überrollen zu lassen.

Heraus kommt dabei ein etwas altmodischer Lebensstil. Wenn er Radio hört, dann macht er nur das: sitzt in seinem Küchen-Sessel und lauscht dem Programm. Fernsehen mag er nicht, das Flimmern und die schnellen Bilder irritieren ihn, er fühlt sich manipuliert.

Nur beruflich schaltet er manchmal doch ein. Zum Beispiel, um den Kerner schon mal ein bisschen kennen zu lernen. "Das ist eine tolle Möglichkeit aufzuklären", sagt er, "ich bin da ja in Millionen Wohnzimmern zu sehen." Jetzt klingt er wie ein Profi.

Die Texte sind von Kursteilnehmern der Deutschen Journalistenschule verfasst.

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