Schaustellerkinder auf der Wiesn:Unterricht hinter der Achterbahn

Familienpflicht: Francesco Stey hilft bei der "Münchner Rutschn".

Familienpflicht: Francesco Stey hilft bei der "Münchner Rutschn".

(Foto: Sabine Cygan)

Sie reisen mit ihren Eltern von Volksfest zu Volksfest, wechseln ständig die Schule - doch ein anderes Leben können sich viele Kinder von Schaustellern kaum vorstellen.

Von Sabine Cygan

Francesco Stey schleppt eine Bierbank um einen Wohnwagen herum, stellt sie zwischen Wagen und der Achterbahn "Höllenblitz" auf. Sonst hört man die Schreie von Oktoberfest-Besuchern hier, heute Morgen hämmert nur jemand auf Stahl. Francesco Stey, 15, spitzt seine Lippen, überlegt kurz und beugt dann den Kopf über sein Heft. Er zeichnet Dreiecke und umkreist sie mit einem Zirkel. Eine Aufgabe, die so auch in seiner Hauptschulabschlussprüfung in vier Wochen dran kommen könnte.

Eigentlich müsste er nicht mehr hier sitzen und Mathe üben. Seine Schulpflicht hat er mit dem letzten Schuljahr erfüllt. Jedoch ohne Abschluss. Den externen Schulabschluss für Schaustellerkinder, das "Schaustellerabitur", will er nun nachholen. "Sonst kann ich nicht als Schausteller arbeiten und einen eigenen Gewerbeschein beantragen", sagt er. Und das will er unbedingt: Schausteller werden.

Genau wie seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern - ja wie viele seiner Vorfahren. Schon seit dem 17. Jahrhundert reist die Familie Stey auf Jahrmärkte und Volksfeste. Einst als Artisten und Gaukler, heute mit einem Kinderkarussell, einer Ballwurfbude und der weiß-blauen "Münchner Rutschn". Auf dem Oktoberfest hilft dort die ganze Familie Stey zusammen. Die Großeltern betreiben seit 32 Jahren den Wiesn-Klassiker.

"Ich werde gefragt, ob ich das ganze Jahr Urlaub mache"

Auf dem Oktoberfest gibt es dieses Jahr zwei Dutzend Schaustellerkinder. Sie besuchen rund drei Wochen am Stück die gleiche Schule. Ausnahmsweise. Sonst müssen sie wie Francesco ständig die Schule wechseln. "Das ist ganz normal für mich", sagt er. Was für ihn "ganz normal" ist, das ist für seine Mitschüler aufregend, exotisch, anders. Schausteller führen ein Vagabundenleben, auch wenn viele einen festen Wohnsitz haben, ein Winterquartier. Hier besuchen die Kinder ihre Stammschule, die auch ihr Zeugnis ausstellt. Basis dafür ist ein Schultagebuch, in dem Noten und Bewertungen aus allen Schulen zusammengetragen werden.

Schaustellerkind Lion

Lion geht in die dritte Klasse, direkt in die Grundschule an der Theresienwiese. Er hat schon feste Freunde hier.

(Foto: Sabine Cygan)

Bereichslehrkräfte wie Cornelia Schöllhammer, 61, helfen Schausteller- oder Zirkuskindern bei ihren Hausaufgaben, sie geben Nachhilfe, vermitteln zwischen Eltern, Kindern und Schulen. Schöllhammer ist eine von 65 Bereichslehrkräften in Bayern. Sie und ihre Schwester Ortrud Essling sind für München und Oberbayern zuständig. Während sich in anderen Bezirken Lehrkräfte nur für ein paar Stunden um Schausteller- und Zirkuskinder kümmern, macht Schöllhammer nichts anderes.

Lion Schubert, 9, besucht während der Wiesn Schöllhammers Nachmittagsbetreuung. Genau wie Francesco muss auch er sich und seine Lebensweise immer wieder erklären. "Ich werde gefragt, ob ich das ganze Jahr Urlaub mache, ob ich wirklich auf dem Volksfest wohne", sagt er und schnauft laut. "Irgendwann nervt das schon."

Nicht alle Kinder seien so aufgeschlossen wie Lion, sagt Schöllhammer. Sie kennt Kinder, die Angst davor haben, alleine in neue Klassen zu gehen, wenn keine anderen Schaustellerkinder dabei sind. Kommen größere Gruppen in dieselbe Klasse, dann kapselten sie sich gerne von den anderen ab. "Wenn sie sich abweisend geben, ist das oft eine Art von Schutz."

"Auf Reisen ist ein höherer Schulabschluss nicht zu schaffen"

Francesco Stey steht am Ende der Rutsche, sammelt Teppiche ein und hängt sie auf das Geländer, für die nächsten Besucher. Schaustellerkinder helfen schon von klein auf im elterlichen Betrieb mit. So kann es laut Schöllhammer manchmal passieren, dass die Schule nicht so wichtig genommen wird. "Das ist aber eine Seltenheit."

Denn eine gute Schulausbildung entscheidet auch auf dem Volksfestplatz über Erfolg und Misserfolg. Wie überall, so gelte auch hier: "Wissen ist Macht", sagt Nicole Schubert, Lions Mutter. Ihr Sohn soll einmal selbst entscheiden, welchen Beruf er erlernt. Wird er selbst gefragt, dann ist klar: "Ich habe mich entschieden. Ich will Schausteller werden." Die Schule nimmt auch die Mutter von Francesco ernst. "Man weiß einfach nicht, was mal ist. Es wird immer schwieriger für uns."

Schaustellerkind Victoria

Eigentlich studiert Victoria Schneider in München "Mode- und Design-Management". Während des Oktoberfestes hilft sie ihren Eltern an der Kasse des "Power Tower II".

(Foto: Sabine Cygan)

Schöllhammer arbeitet seit zehn Jahren als Bereichslehrerin, sie sagt: "Ich kenne kein Schaustellerkind, das einen anderen Beruf gewählt hat. Wenn die Kinder einen höheren Schulabschluss wie die Mittlere Reife oder das Abitur erreichen wollen, dann müssen sie auf ein Internat gehen. Auf Reisen ist das nicht zu schaffen."

Victoria Schneider, 21, hat genau das getan, 13 Jahre lebte sie in einem Internat im nordrhein-westfälischen Herford. Am Wochenende besuchte sie ihre Eltern auf den Volksfestplätzen. "Jeden Freitagnachmittag machte ich meine Hausaufgaben so schnell wie ein Flitzebogen, weil wir vorher nicht wegfahren durften", erinnert sie sich. Sie hat gerne im Internat gewohnt, gemeinsam mit ihren Cousinen und Cousins und ihren beiden jüngeren Brüdern.

"Mit 18 dachte ich mir, ich sitze jetzt erst einmal bei meinen Eltern an der Kasse." Heute studiert sie in München an der Akademie für Mode und Design. Während der Wiesn kassiert sie dann doch beim "Power Tower II". "Wenn ich einen guten Job bekomme, dann kann ich mir schon vorstellen, nicht Schaustellerin zu werden", sagt Victoria, "aber Schausteller zu sein, das ist mehr als ein Beruf."

Francesco hat nun schon einige Kreise um die Dreiecke gezeichnet. Auf die Frage, was ihn am Schaustellerberuf so begeistere, überlegt er lange. "Es ist einfach besser als ein normaler Job", sagt er vorsichtig, "ich kann es nicht genau erklären." Es liegt ihm wohl einfach im Blut.

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