Schauspiel:Müllverbrennung im Märchenwald

Das Stadttheater Ingolstadt zeigt nach Motiven von âÄžHaensel und GretelâÄœ ein modernes Maerchen ueber die Gier der Banken: âÄžHunger und GierâÄœ. Urauffuehrung: 21. Februar 2020.

Heiße Ware: Die Hexe (Enrico Spohn) lockt die Wohlstandskinder Hans (Jakob Dinkelacker, r.) und Grete (Paula Gendrisch) mit Müll-Geschäften.

(Foto: David Baltzer)

Finster und bitterkalt zeigt Knut Weber die Welt in seiner radikalen "Hänsel und Gretel"-Version am Stadttheater Ingoldstadt. Die Uraufführung von "Hunger und Gier" ist ein Spektakel über Spekulanten

Von Florian Welle

Wo ein Plus ist, ist immer irgendwo ein Minus!" Antje Rietz spricht den Satz als Mutter von Hans und Grete ganz nüchtern zu Beginn des Stückes, das in den darauffolgenden drei Stunden das Märchen von "Hänsel und Gretel" auf radikale Weise in die Gegenwart zerren wird: "Hunger und Gier". Das ist der zentrale Satz der Uraufführung, die das vielköpfige Team um den Ingolstädter Intendanten Knut Weber ein "Spektakel" aus Musik, Film, Video und Theater nach Motiven der spätromantischen Märchenoper "Hänsel und Gretel" von Engelbert Humperdinck nennt.

Ein Leben in Wohlstand und Überfluss, das der Westen wie ein Naturrecht für sich in Anspruch nimmt, hat seine Opfer in Afrika, Asien, Südamerika. Dort, wo Arbeitskräfte billig und die Umweltstandards niedrig sind. Wer die Augen verschließt, wird die Systemverlierer nicht sehen. Doch sie sind da. Im Stadttheater Ingolstadt an diesem Abend sogar überlebensgroß. Gut die Hälfte der Inszenierung besteht aus einem Film, den die Ingolstädter Kevin und Tobias Schmutzler zusammen mit dem Schauspielensemble unter anderem in den Slums von Mumbai gedreht haben und der zwischen den Spiel- und Singszenen auf den dafür heruntergelassenen Eisernen Vorhang projiziert wird.

Plastikmüll, wohin das Auge reicht. Dazu noch Film-Stills vom Agbogbloshie Market am Stadtrand von Accra, dem größten Friedhof für ausrangierte technische Geräte der westlichen Welt, und die Info im Programmheft: "Füllt man den jährlich anfallenden Elektroschrott in Müllwagen, ergäbe dies eine Schlange, die sich um den halben Erdball erstreckt."

Unser Hunger nach immer mehr hier. Deren existenzieller Hunger dort. Ein glänzendes Geschäft. Der Vater von Hans und Grete, Peter, ist kein armer Besenbinder wie bei Humperdinck. In der multimedial aufgepeppten Version von Knut Weber ist er ein skrupelloser Anwalt, der auf Seltene Erden spekuliert, die in unseren Handys ebenso stecken wie bald in allen unseren E-Autos. Ein (Ab-)Zocker, der sich zuvor gemeinsam mit seiner Frau durch Cum-Ex-Geschäfte eine goldene Nase verdient hat. Ein Laufband, wie man es für die Obertitel aus der Oper kennt, füttert den Zuschauer mit den dazugehörigen Fakten: "Mit Cum-Ex und vergleichbaren Aktiengeschäften hat eine Bande von Anwälten, Banken und Investoren die deutschen Steuerzahler über Jahre hinweg um mindestens 55,2 Milliarden Euro beraubt." Wo ein Plus ist, ist immer irgendwo ein Minus.

Wie Antje Rietz als Mutter, so hat auch Richard Putzinger als Vater etwas businessmäßig Eisiges. Emotionen kommen erst zum Vorschein, als die Kinder aus dem schicken Wohnkubus auf Stelzen - er verwandelt sich später in das gar nicht zuckersüße Hexenhaus - rausgeworfen wurden und nun ihr eigenes Ziel verfolgen, das schlicht heißt: Rache an den Eltern. Auch Hans und Grete sind hier natürlich andere als in der Märchen- und Opernvorlage. Keine Kostgänger, sondern sich selbst überlassene, wohlstandsverwahrloste Kids. Ihre Armut ist seelischer Natur.

Damit sind sie leichte Opfer für die Hexe, die die beiden nicht mit Lebkuchen ködert, sondern wie zuvor bereits die Eltern mit krummen Müll- und Aktiengeschäften. Enrico Spohn im roten Anzug ähnelt mehr einem Teufel als einer Hexe und singt: "Wir machen Scheiße zu Gold." Schnell hängen Hans und Grete, von Peter Rahmani und Paula Gendrisch wie auf Koks gespielt, an seinen Lippen.

Knut Weber ist ein Aufklärer im besten Sinne. Sein Stück, das genüsslich mit den Motiven von Elend, Überfütterung und Reichtum spielt, kommt zum Glück ohne erhobenen Zeigefinger daher. Er stellt die Fakten aus und überlässt es dem Zuschauer, aus seinem dicht gesponnenen Assoziationsgeflecht aus deutschem Märchenwald, Frankfurter Bad Banks und indischen Slums Schlüsse zu ziehen. Das Ganze wird musikalisch untermalt von Walter Lochmann, der live mit einem kleinen Orchester Musik und Lieder aus Humperdincks Oper wie "Brüderchen, komm tanz mit mir" höchst humorvoll in Disco, Rap und Bollywood-Sause zerlegt. Großer Applaus.

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