Viele bunte Blasen scheinen hier miteinander zu tanzen. Sie sind orange, rot, grau oder lila gefärbt, sie tragen viele Namen, und sie drängen sich dicht aneinander. Die Grafik, die den Flyer des diesjährigen Schamrock-Festivals ziert, passt ziemlich gut zum Konzept der Veranstalter Augusta und Kalle Aldis Laar: Sie wollen Anfang November drei intensive Tage lang mehr als 60 Dichterinnen und Musikerinnen aus 20 Ländern zusammenbringen, in diversen Schwerpunkten nach Verbindungen suchen - und überhaupt die bunte Vielfalt und Vielstimmigkeit der slowenischen, spanischen, britischen oder litauischen Lyrik feiern.
So fröhlich das erstmal anmutet, so dunkel ist es doch gerade in diesem Jahr grundiert. "Where Are We Now?", lautet das Motto, auf einen grandiosen Song von David Bowie anspielend; eine Frage, die sich Augusta Laar als Kuratorin und ihr Mann Kalle als organisatorischer Leiter nach zehn Jahren mit sechs Festivals zunächst einmal selbst stellten: "Machen wir etwas, das uns sinnvoll vorkommt und das auch andere für sinnvoll erachten?" Die vielen Antworten darauf, die sie in den zwei Jahren seit dem letzten Festival erreichten, hätten sich zu einem "riesengroßen Ja" verdichtet, sagt Kalle Laar. Und zu einer immer stärker wahrnehmbaren Richtung: Das Festival werde "immer politischer", sagt Augusta Laar, "das drängt sich einfach immer mehr auf. Es gibt immer mehr verfolgte Dichterinnen, so kommt es mir vor."
Das hat nicht nur, aber auch mit dem Ukraine-Krieg zu tun. Doch es gibt ja noch mehr Regionen der Welt, in denen Menschen verfolgt werden, die sich in Wort und Tat gegen Ungerechtigkeit und Repression zur Wehr setzen. Zum Beispiel wird wie vor zwei Jahren die Autorin und Aktivistin Tang Siu Wa aus Hongkong anreisen, deren Lage inzwischen "sehr, sehr schwierig" geworden sei, sagt Augusta Laar. Auf gleich zwei Podien in Zusammenarbeit mit dem PEN-Programm "Writers in Exile" wird man beim Festival in der Whitebox im Werksviertel weitere beeindruckende Schriftstellerinnen und Aktivistinnen erleben können: Die eritreische Autorin Yirgalem Fisseha Mebrahtu, die bereits einige Jahre in München lebt, werden manche Zuhörer vielleicht bereits kennen; erst seit einem halben Jahr in München unterstützt wird dagegen Stella Nyanzi aus Uganda. Auch angesichts der Verdienste von Autorinnen und Aktivistinnen wie Najet Adouani aus Tunesien, Kholoud Charaf aus Syrien und Şehbal Şenyurt Arınlı aus der Türkei zollen die Laars ehrfürchtig "höchsten Respekt".
Respekt kann man auch ihnen selbst zollen. Sie haben bereits Jahre, bevor das Thema allerorts höchste Dringlichkeitsstufe erreichte, die Ukraine auf die Tagesordnung gesetzt. Schon 2018 gab es beim Festival einen "Fokus Ukraine", und Kalle Laar erinnert sich noch gut daran, wie die Dichterin Iryna Tsylik damals sagte, dass die ukrainischen Autoren "wie Kanarienvögel früher in den Gruben funktionieren: als Frühwarnsystem". Die Laars haben die Lyrikerinnen erneut eingeladen, und auch wenn nicht alle kommen können: Iryna Tsylik wird aus Kiew anreisen, Halyna Petrosanyak aus der Schweiz, und auch Oksana Stomina aus Mariupol wird dabei sein, die derzeit in München Zuflucht gefunden hat und sich doch zurücksehnt. "Seit Kurzem bin ich überall und nirgends. Stur und rastlos, / Wo ich auch bin, läuft der Krieg, atmet mir in den Nacken,/ Kratzt an meinem Herzen, flüstert Träume vom Unvermeidlichen", schrieb sie im Gedicht "Nirgends" im Juli. "Wo mein Glück ist und mein Mann, weiß ich nicht einmal ... / Vergebens verstecke ich meine Erschöpfung und Trauer. / Wo ich auch bin, bin ich nirgends und möchte nur nach Hause."
Doch auch wenn es angesichts solch verzweifelter Zeilen schwerfällt, einen Übergang zu finden: Das Festival soll nicht nur bedrückend werden, sondern in vielerlei Hinsicht mehr eine "Plattform für kritischen Diskurs und innovative Poesie", wie Kunstminister Markus Blume als diesjähriger Schirmherr, schön feministisch gestimmt, in einem Grußwort schreibt. Das in diesem Jahr von Freistaat, Stadt, dem Bund mit "Neustart Kultur" und vielerlei kleinen und großen Institutionen geförderte Festival soll sowohl den Dichterinnen als auch dem Publikum eine Gelegenheit bieten, in viele Richtungen zu denken und sich zu vernetzen.
So wird in einem weiteren Schwerpunkt der Fokus auf Litauen gesetzt, mit unter anderen der Autorin Vaiva Grainytė. In einem Buchmessen-Nachklapp werden spanische Stimmen zu hören sein, und auch slowenische Dichterinnen wie Barbara Korun stellen sich vor. Die Lyrikerin und Kleinverlegerin Lisa Jeschke bringt Kolleginnen aus London oder Berlin in "Materials Reading Series" zusammen, Jessie Kleemann aus Grönland wird laut Augusta Laar eine "richtig schamanische Performance" beisteuern, Nora Gomringer mit "Peng Peng Parker" eine garantiert knallende. Und in bewährter Zusammenarbeit mit dem Heroines of Sound Festival Berlin werden in diesem Jahr Chica Paula und Alexandra Cárdenas eigenwillige elektronische Klänge in den Äther schicken.
Da kommt eine Menge zusammen, "grenzübergreifend" und "generationenübergreifend", und den Laars ist schon klar, dass das aufs Publikum leicht überfordernd wirken könnte. Doch niemand müsse ja alles anschauen, sagt Kalle Laar fröhlich, es gebe günstige Tagespässe à 15 Euro, und außerdem: "Alles wird live gestreamt" und später auch auf der Webseite zu finden sein. So entstehe allmählich ein Archiv des Festivals, und auch für das Standing der Lyrikerinnen sei es wichtig, in ihren jeweiligen Gesellschaften die internationale Resonanz dokumentieren zu können und somit sichtbarer zu werden.
Sichtbar bleiben wollen auch die Laars. Sie freuen sich über die Wertschätzung, die Augusta Laar zuletzt mit zwei Preisen erfahren hat, dem städtischen Anita-Augspurg-Preis und dem Kulturpreis Bayern. Und es ist ihnen verständlicherweise ein Anliegen, nicht nur als Veranstalter, sondern weiterhin auch als Künstler wahrgenommen zu werden. Diesmal wollen sie unter ihrem Namen "Kunst oder Unfall" Gedichte von Augusta Laar, die zuletzt den somnambul soghaften Band "Mitteilungen gegen den Schlaf" vorgelegt hat, mit "Sirenen" des Multitalents Andreas Ammer kontrastieren und Klängen der Elektronik-Musikerin Mjellmë. Es sei eine Gelegenheit, "mal sehr spielerisch mit der Situation umzugehen", sagt Kalle Laar. Klingt ganz nach dem Geschmack des Künstlerduos; sie werden sicher ein paar Synapsen neu verknüpfen, im besten Fall die Verhältnisse zum Tanzen bringen.
Schamrock-Festival der Dichterinnen, Fr. 4., bis So., 6. Nov., Whitebox München, Atelierstr. 18, Programm: schamrock.org