Scham, Scheu, Beweisprobleme:Warum so viele Vergewaltigungen nie ans Licht kommen

Die im Dunkeln sieht man nicht: Warum so viele Vergewaltigungen nie ans Licht kommen. Und wie die Justiz mit Scham, Scheu und Beweisproblemen umgeht.

Ronen Steinke

Wenn Staatsanwälte erfahren, dass irgendwo in Deutschland eine Vergewaltigung stattgefunden hat, und sei es vom Hörensagen, aus den Erzählungen einer Freundin des Opfers oder über den Kurznachrichtendienst Twitter, dann sind sie verpflichtet zu handeln. Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt. Es gilt in Deutschland als Verbrechen.

Wird ein Mensch zu dem genötigt, was das Gesetz als "sexuelle Handlung" nur abstrakt umschreiben kann, beträgt die Strafe bereits mindestens ein Jahr. Von Vergewaltigung spricht das Gesetz erst, wenn der Täter so weit geht, in den Körper des Opfers einzudringen, und es verpflichtet die Justiz dann, eine Freiheitsstrafe von zwei bis 15 Jahren zu verhängen. Gerichte haben also durchaus die Möglichkeit, hart durchzugreifen, wenn sie einmal eine solche Tat zu beurteilen haben.

Wenn. Das ist das große Problem. Bei keinem anderen Delikt im Strafgesetzbuch dürfte die Schere zwischen dem, was Opfer erleiden, und dem, was in Gerichtssälen zur Sprache kommt, derart weit auseinanderklaffen. Bei keinem anderen Delikt, so erklärt es die Hamburger Rechtsprofessorin Ulrike Lembke, eine der besten Kennerinnen der Problematik in Deutschland, haben Opfer so große Scheu, zur Polizei zu gehen.

Nach einer repräsentativen Dunkelfeld-Studie der Bundesregierung aus dem Jahr 2004 haben 13 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr eine Form von sexualisierter Gewalt erlitten. Das ist fast jede siebte Frau. Aber nur jede zehnte der Betroffenen hat den Täter auch angezeigt.

Die Scheu der Opfer hat viele Gründe. Meist ist der Täter ein Verwandter oder enger Bekannter; dies gilt für 60 Prozent der Sexualdelikte, von denen die Polizei erfährt. "Vergewaltigung ist weit überwiegend ein Beziehungsdelikt", sagt die Forscherin Ulrike Lembke. "Das Klischee-Bild vom fremden, psychisch gestörten Mann, der eine junge Frau abends oder nachts im Park überfällt, trifft nur ganz selten die Realität." Je enger der Bekanntheitsgrad zwischen Täter und Opfer, desto seltener erstatten Frauen in der Regel Anzeige.

Zum Gefühl der Ohnmacht oder Gefangenheit, das die Opfer vor einer Anzeige zurückschrecken lassen kann, kommt oft Scham hinzu. Lange hat die deutsche Justiz sich wenig bemüht, für vergewaltigte Frauen eine Anlaufstelle zu sein. Lange war die Strafjustiz eine Männerdomäne. Polizisten waren für den Umgang mit Opfern nicht sensibilisiert. "Die Frauen wurden durch ihre Behandlung bei Gericht oft ein zweites Mal traumatisiert", sagt Ulrike Lembke.

Das sei inzwischen zwar deutlich besser geworden, glaubt sie. Heute ist es etwa beim Münchner Kriminaldauerdienst gängige Praxis, dass Vergewaltigungsopfer nach Möglichkeit von Frauen vernommen werden. Sie dürfen sich von einer Vertrauensperson begleiten lassen; bei einem Prozess kann später die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden; Videotechnik kann dem Opfer auch eine Begegnung mit dem Täter ersparen. Aber das Opfer muss seine Geschichte immer noch von Fremden beurteilen lassen.

Die Justiz siebt schon vorher stark aus

Es ist für viele Opfer nach Ansicht der Forscherin Ulrike Lembke auch abschreckend, wie schwierig Sexualdelikte zu beweisen sind. Von den etwa 1400 Fällen, die pro Jahr in Bayern vor Gericht kommen, enden zwar die meisten mit einem Schuldspruch: etwa 80 Prozent, wie Johannes Luff erklärt, der Leiter der kriminologischen Forschungsgruppe der bayerischen Polizei.

Allerdings siebt die Justiz schon vorher stark aus - zwischen Anschuldigungen, die sie für glaubhaft hält und solchen, die sie gar nicht erst vor Gericht lässt. Insgesamt 5937 Anzeigen gab es 2010 bei der bayerischen Polizei, nur ein Viertel davon wurde vor Gericht angehört. "Die Entscheidung, ob es sich bei dem angezeigten Vorgang möglicherweise um eine Vortäuschung gehandelt hat, trifft nicht die Polizei, sondern die Justiz", sagt der Polizei-Kriminologe Luff. Wobei der Vorwurf, eine Frau lüge, oft unaufgeklärt im Raum stehen bleibt, wenn Aussage gegen Aussage steht.

Die Aktion #ichhabnichtangezeigt hat zum Ziel, Opfern sexueller Gewalt Mut zu machen, sich an die Polizei zu wenden. Allein die Twitter-Nachrichten oder Mails bringen aber noch keinen Fall vor Gericht. Bei #ichhabnichtangezeigt wurde noch in keinem Fall der Name des Täters explizit genannt. Das heißt für Staatsanwälte, die von der Aktion hören und eingreifen möchten: Sie können nur darauf warten, dass die Teilnehmer den Mut schöpfen, ihre Leidensgeschichte auch in der Realität zu erzählen. Dafür läuft keine Frist.

Eine Strafverfolgung ist noch bis zu 20 Jahre nach der Tat möglich; erst dann verjährt Vergewaltigung. Die Chance, die Tat noch beweisen zu können, nimmt freilich immer mehr ab.

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