Schallplatte:Wo Vinyl in München weiterlebt

Schallplatte: Christos Davidopoulos steht vor etwa 20.000 Schallplatten in seinem Musikzimmer - gerade einmal die Hälfte seiner privaten Sammlung.

Christos Davidopoulos steht vor etwa 20.000 Schallplatten in seinem Musikzimmer - gerade einmal die Hälfte seiner privaten Sammlung.

(Foto: Carina Müller)

Für viele Musikliebhaber ist Vinyl weit mehr als nur ein Tonträger. Besuche bei Menschen, die eine gemeinsame Leidenschaft teilen.

Von Jan Batzner, Teresa Walter, Leonard Scharfenberg und Jakob Deckers

Der Sammler: Christos Davidopoulos

Im Musikzimmer, im Hinterzimmer, im Lagerraum, im Nebenraum und bei einem Freund lagert Christos Davidopoulos seine Schallplatten. Fünf Zimmer voll, im engen München. Inzwischen sind es etwa 40 000 Stück. Was für viele ein Trend ist, gehört für Davidopoulos schon immer dazu. Die erste Platte hat sich der gebürtige Grieche vor 47 Jahren gekauft und besitzt sie bis heute: ein Best Of von Bob Marley. Doch so schnell wurden es nicht mehr, denn Vinyl war teuer. Wenn es gut lief, konnte er sich eine neue Platte im Monat leisten.

Das änderte sich, als Davidopoulos vor 40 Jahren zum Studium nach München kam. Der erste Plattenkauf in der Stadt bedeutete für ihn ein Gefühl von Ankommen: "A Love Supreme" von John Coltrane. Mit jeder Platte hat sich der Grieche mehr und mehr heimisch in München gefühlt. Anfangs lebte er in der Studentenstadt und hatte noch gar keinen Plattenspieler - trotzdem hat er schon erste Scheiben gekauft. Er hat immer wieder nachgezählt und war stolz auf seine Sammlung.

In den Semesterferien 1982 jobbte Davidopoulos in einem Kleidungsversand in Milbertshofen. Gleichzeitig verkaufte ein Plattenladen in der Nachbarschaft seinen Bestand billig ab und der Student gab sein gesamtes Gehalt von 2000 DM dort aus. Er hat sich so Scheiben zugelegt, von denen er bisher nur träumen konnte. "Essen oder Platte? Man musste sich entscheiden. Alles, was übrig war, hab' ich in Platten investiert. Lieber mal hungrig ins Bett als eine gute Platte verpasst", sagt Davidopoulos.

Auch wenn der Musikliebhaber verreist, schaut er sich nach neuen Scheiben um. Bei seinem ersten Besuch in Barcelona war ein bekannter Plattenladen selbstverständlich das erste Ziel. Er hat Physik studiert, als Lehrer gearbeitet und eine Doktorandenstelle angeboten bekommen, aber entschied sich für die Platten. Er wohnte neben dem Plattenladen Optimal Records, arbeitete irgendwann dort und gehörte schlussendlich dazu. Den Plattenladen im Glockenbachviertel, der weit über München hinaus als Institution gilt, verantwortet er bis heute mit. Außerdem legt er selbst mit Vinyl auf, organisiert eigene Events und hört neue Musik nur von der schwarzen Scheibe.

Davidopoulos war schon immer stolz auf seine private Sammlung, aber als Sammler sieht er sich nicht. Er erklärt: "Sammler wollen ein bestimmtes Label komplett haben, Covers von einem bestimmten Künstler oder ganze Nummerserien von Plattenfirmen." Davidopoulos will Vinyl hören. Das, was ihm gerade gefällt - Sammlerwert egal.

Angefangen hat es mit Musik, die er aus der Jukebox kannte. Jeden Tag die gleichen Lieblingssongs im Kiosk auf seinem Schulweg - dort stand der Musikautomat. Viel Pop, zwischendrin ein bisschen Disco. Irgendwann las er dann in einer Frauenzeitschrift seiner Oma von der Punk-Band Sex Pistols und wurde neugierig. Der Name reizte ihn, er kaufte eine Platte und entdeckte so den Punk für sich.

Seine neuste Scheibe ist "Singe Tema" von Zuhura & Party, eine Pop-Platte mit Afrobeat aus Sansibar von muslimischen Musikern. Davidopoulos hört gern Musik aus der ganzen Welt, "nicht nur weiße Nordamerikaner und Europäer." Gerade läuft die neue Scheibe bei ihm zwei bis dreimal täglich. Aber die nächste Platte ist schon bestellt.

Der Verkäufer: Maoz Barda

Schallplatte: Maoz Barda sucht die Platte heraus, die als nächstes laufen soll.

Maoz Barda sucht die Platte heraus, die als nächstes laufen soll.

(Foto: Carina Müller)

Gelb gemusterte Tapete, orange Guzzini-Lampen, am Eingang ein Plattenspieler, auf dem eine Scheibe ihre Runden dreht. Ein Besuch in Maoz Vinyl-Café ist wie ein Zeitsprung zurück in die Siebzigerjahre. Ruhiger Jazz tönt aus den Lautsprechern über die Regale hinweg und verteilt sich im Raum. In einer Ecke sitzt Maoz Barda.

Vor sechs Jahren kam er mit seiner Familie aus Tel Aviv nach München. Zwei Jahre später eröffnete er sein Ladencafé in der Maxvorstadt. Er wollte einen Ort schaffen, an dem man Platten hört, nicht nur kauft. Tatsächlich schlendern einige Besucher durch den Laden in der Hiltenspergerstraße, stöbern zwischen 15 000 Scheiben, trinken einen Kaffee und verlassen den Laden, ohne etwas zu kaufen. Fragt man den 45-Jährigen nach einer bestimmten Platte, kann es passieren, dass er sich auf die Suche macht, in den hinteren Räumen Kisten durchsucht und mit leeren Händen zurückkommt, weil er sie nicht finden konnte. Der erste Gedanke, wenn er den Laden morgens betritt? Er lacht: "What a mess." Was für eine Unordnung.

Das liegt unter anderem an Bardas unkonventioneller Art, die Platten zu ordnen. Gebrauchte und neue Platten werden durchmischt und nicht wie in anderen Läden getrennt aufbewahrt. Barda sortiert die Künstler außerdem nach ihrem Vornamen. Er halte nichts von Distanz und duze die Künstler gerne. David Bowie findet man unter D. Außerdem dürfen bei Barda bis auf versiegelte Sammlerstücke grundsätzlich alle Platten geöffnet und Probegehört werden.

"Zuerst kommt die Musik", sagt er und hört wie zur Demonstration Robert Gasper am Piano zu. "Ich glaube, viele Vinylsammler verlieren irgendwann den Blick für die Musik. Sie kaufen Platten wegen des Labels oder der Pressqualität und nicht wegen der Musik." Aber auch solche Sammler gehören zu seinen Kunden. Im Laden begegnen sich verschiedene Generationen. Ein Mann Ende 50 stöbert durch eine Plattenkiste. Die goldene Ära des Vinyls hat er selbst miterlebt. "Und ich hab' die Platte sterben sehen", erzählt er. Auf der anderen Seite der Kiste hat sich eine junge Frau mit Fransenpony in die Platten vertieft. Barda meint: "Die junge Generation hat etwas zum Anfassen vermisst." Damit erklärt er das Comeback der Langspielplatte. "Sie hat ihren Charme, sie hat Charakter. Vinyl ist Plastik mit Seele."

"Der Klang ist vor allem softer und viel intensiver"

Der DJ: Henry Singer

Schallplatte: Henry Singer, alias Don Schmocko, legt im Holy Home auf.

Henry Singer, alias Don Schmocko, legt im Holy Home auf.

(Foto: Steffen Leiprecht)

"Der Klang ist vor allem softer und viel intensiver", unterbricht Henry Singer einen seiner Freunde und DJ-Kollegen, mit denen er gerade über die Vor- und Nachteile der Platte fachsimpelt. Zu fünft stehen sie hier - eingerahmt von kaltem Industrieküchen-Edelstahl - im Backstage-Bereich der Bar "Holy Home" am Gärtnerplatz, trinken Bier und überfordern die Dunstabzugshaube mit dicken Rauchschwaden. Sie alle legen nur mit Vinyl auf. Hier im Holy Home werde generell nur mit Vinyl aufgelegt, erklären sie. Singer - Künstlername Don Schmocko - steht an diesem Abend abwechselnd mit einem Freund an den Turntables.

Dafür hat der 50-Jährige einen Koffer mitgebracht, gefüllt mit fast 250 Singles und 30 Langspielplatten. Welche er einpackt, das entscheide er meist auf den letzten Drücker - je nach Stimmung. Aber das Partygepäck wiegt schwer. "Da überlegt man sich schon zweimal, ob man das Taxi nimmt", sagt Singer lachend. Vinyl habe hier auf jeden Fall Nachteile. "Man kann eben nur spielen, was man hat", gibt er zu. "Ich habe schon mal sieben Jahre auf eine Platte gewartet", erzählt er. "Aber dann war der Moment, in dem ich mit ihr aufgelegt habe, einfach nur geil. Und das spüren die Leute." Es sei eben doch etwas anderes, ob jemand da mit einem Computer stehe oder echte Platten spiele.

Doch Singer hegt keinen Groll gegen digitale Musik: "Klar, wenn da einer mit einer mittelmäßigen mp3-Datei am Laptop eine super Clubanlage bespielt, tut das schon weh." Doch er verstehe den Reiz. "Als wir angefangen haben, da konnte man sich ja nichts leisten. Jetzt kaufst du dir einfach einen Laptop und kannst durchstarten, bringst die Leute zum Tanzen." Am Ende gehe es ja nur um den Spaß: "Es sind einfach zwei verschiedene Kulturen. Aber wir respektieren uns gegenseitig", sagt er.

Singer lächelt. Für ihn ist es jetzt Zeit, seinen Freund am DJ-Pult abzulösen. Das Holy Home ist prall gefüllt. Er setzt die Kopfhörer auf und ist auf einmal ganz für sich. Singer, jetzt "Don Schmocko", wippt mit der Musik mit und schließt die Augen. Der Mann mit dem freundlichen, wachen Gesicht ist ganz in seinem Element. Die Handgriffe sitzen, das Lächeln wird breiter. Hammondorgelklänge fließen über funkige Beats. Die Stimmung ist gut.

Mit sieben Jahren hat sich Singer seine ersten Platten gekauft. Elf Jahre später, bei einem Besuch im Berliner Technoclub Turbine, wurde ihm dann klar: Er will auflegen. Techno, Jazz, Hip-Hop, Funk oder Soul - das ist ihm egal. Er ist auf der Jagd nach guter Musik. Mit dem Erfolg der CD begannen viele Leute, ihre Plattensammlung zu verkaufen. "Wir profitierten davon", sagt Singer verschmitzt. Heute seien Platten wieder gefragt. Singer freut es, dass sich auch wieder mehr junge DJs für Vinyl entscheiden. Doch der Einstieg ist schwierig: So eine Sammlung wie seine koste insgesamt 10 000 bis 20 000 Euro, schätzt Singer. "Da muss man dann schon mal das Haus von der Oma verkaufen", scherzt er. Doch es lohne sich dranzubleiben.

Inzwischen hat Singer ein paar Tausend Platten. Als Sammler sieht er sich aber nicht. Er glaubt, echte Sammler legen nicht auf. "Die freuen sich, wenn sie ihr Schätzchen zu Hause haben und keiner berührt's." Er sagt das belustigt, aber auch ein wenig bedauernd.

Der Klangmechaniker: Willibald Bauer

Schallplatte: Willibald Bauer werkelt am Motor seines Designerstücks.

Willibald Bauer werkelt am Motor seines Designerstücks.

(Foto: privat)

Willibald Bauer ist Vinyl-Fan, schon seit er 15 Jahre alt ist. Nach einer Lehre zum Fotografen wurde er Hi-Fi-Händler. Dann kam ihm die Idee, einen Schallplattenspieler zu bauen. "Mit Ignoranz und Arroganz bin ich damals darangegangen. Ich dachte, ich könnte das", erinnert sich Bauer. "Dann habe ich gemerkt: So einfach ist das gar nicht. Aber ich bin drangeblieben und habe dann mithilfe von verschiedenen Seiten den dps entwickelt."

Den "dps" - kurz für "der Plattenspieler" - den Willibald Bauer entwickelt hat, gibt es mittlerweile in der dritten Generation. Gefertigt wird er in München, in einem unscheinbaren Haus unweit des Westparks. Ein Betrieb, vier Mitarbeiter und ungefähr 50 verkaufte Plattenspieler pro Jahr. Über die Jahre sind Lautsprecher, Tonarme und Phono-Verstärker dazugekommen. Der dps besteht aus ungefähr 30 Bauteilen. Jedes einzelne wird in der Umgebung von München hergestellt und dann in die Werkstatt geliefert. Dort werden die Einzelteile von Bauer und seinen Mitarbeitern in Handarbeit zu einem Designer-Stück zusammengebaut. Noch eine gründliche Qualitätsprüfung, dann kann das Gerät versendet werden.

Wenn man Willibald Bauer am Arbeitsplatz besucht, empfängt er einen in einem Zimmer, das gleichzeitig Beratungsraum, Büro und zweites Wohnzimmer ist. Durch zwei Türen kann man einen Blick in die Werkstatt werfen. In der Mitte des Zimmers steht ein Stuhl - gegenüber zwei selbst gebaute Boxen. Oft sitzt der 57-Jährige einfach dort, schaut Richtung Wand auf ein schwarz-weißes Gemälde und hört Musik. Gerade läuft "The Bell" von Ches Smith, Mat Maneri und Craig Taborn. Was aus den Boxen schallt, ist ganz unterschiedlich: "Von Klassik über Jazz, Rock und Pop bis hin zu New Yorker Avantgarde-Klängen ist alles dabei. Ich höre einfach, was mir gerade gefällt."

Die meisten seiner Kunden kommen aus Deutschland - aber auch in Griechenland, Frankreich und sogar Australien wird der dps verkauft. Zwischen 6000 und 8000 Euro kostet Bauers Spieler. "Ich habe mittlerweile eine gute Reputation", so erklärt Bauer seine Verkaufszahlen.

Laut dem Branchenverband gfu (Gesellschaft zur Förderung der Unterhaltungselektronik) sind 2016 etwa 106 000 Plattenspieler verkauft worden. Bauer hat mit 50 Geräten nur einen Bruchteil dazu beigetragen. Der Durchschnittspreis der verkauften Plattenspieler liegt allerdings bei nur 216 Euro. "Der dps ist irgendwo auch ein Möbelstück. Den Käufern geht es bei meinem Spieler um Design - und natürlich um den Klang."

Wenn es ums Musikhören geht, ist Bauer aber kein Vinyl-Fanatiker. Neben Langspielplatten hört er auch viel über verschiedene Streamingdienste. Das sei einfach komfortabel. Nur von der CD hält er nichts: "Sie ist in der Haptik einfach nicht schön. Ein komisches Plastikteil in einer Plastikhülle. Auch das Klangniveau ist nicht besonders. Da klingt ein guter Plattenspieler einfach besser."

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Medaille für Künstler

Bei den Münchner Musikverlagen ECM und Blanko Musik ist Vinyl in den vergangenen zehn Jahren wieder zu einem festen Bestandteil des Sortiments geworden. In der 50-jährigen Geschichte des Jazzlabels ECM sei die Platte nie aus dem Katalog verschwunden, erzählt der Pressesprecher Christian Stolberg. Seit sechs Jahren werden aber auch neue Alben wieder in dieser Art angeboten. Blanko Musik nahm Vinyl-Alben zeitweise sogar komplett aus dem Sortiment. Auf Wunsch ihrer Musiker habe man vor zehn Jahren wieder begonnen, Schallplatten anzubieten, sagt Geschäftsführer Hage Hein: "Mittlerweile ist das für Künstler wie eine Medaille - Vinyl machen."

Inzwischen produziert das Label Platten hauptsächlich für Verkaufsstände bei Konzerten. Zuletzt sei die Schallplatte immer ein Nischenmarkt gewesen, sagt Hein. Besonders kunstaffine Menschen und Musiker würden zu Vinyl greifen. Es gebe Hörer, die sich über Vinyl definieren. Bei ECM zeige sich laut Stolberg ein ähnliches Muster: Jazz-Hörer würden sich in der Regel mehr mit Musik beschäftigen. "Für die ist Vinyl fast so eine Art Ausweis: das Musikhören anders und intensiv zu zelebrieren."

Für einen Verlag ist das Pressen von Schallplatten jedoch sehr zeit- und geldaufwendig. Besonders auf die Qualitätskontrolle werde viel Mühe verwendet, sagt Stolberg. "Wir könnten es aber nicht machen, wenn es sich nicht rentieren würde." Vergangenes Jahr wurden laut dem Bundesverband Musikindustrie wieder weniger Platten verkauft als im Vorjahr. Bei ECM zeichnet sich diese erneute Trendwende nicht ab: "Bei uns geht es noch aufwärts mit den Verkaufszahlen", berichtet Stolberg. Auch Hage Hein von Blanko Musik sieht kein Ende des Plattenbooms: "Vinyl bleibt definitiv." Carina Müller, Leonard Scharfenberg

Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit der katholischen Journalistenschule ifp. Alle Autoren sind Stipendiaten des Jahrgangs 2019.

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