Süddeutsche Zeitung

Werksviertel:Nachwuchs bei den Rooftop-Schafen

Walliser Schwarznasenschafe grasen auf einem Hochhausdach am Ostbahnhof, knapp sechzig Meter oberhalb der Isar - drei Mutterschafe, ein Bock, und neuerdings zwei Jungtiere.

Von Isabel Bernstein

Wäre Ben im Tierpark Hellabrunn geboren, er wäre längst ein Star. Kein Wunder, mit seinen schwarzen Ohren und den weißen Locken löst er so ziemlich jeden Reflex aus, den ein Tierbaby nur auslösen kann. Die schwarzen Flecken an seinen Knien sehen aus wie Knieschoner beim Inlineskaten. Entspannt liegt Ben an seine Mutter gekuschelt im schattigen Gras und reckt die kleine Stupsschnauze in die Luft. Nein, ein Star ist Ben nicht, von Fans ist weit und breit nichts zu sehen. Viele Münchner dürften nicht einmal wissen, dass es ihn gibt.

Und das ist gut so, zumindest aus Sicht von Nikolas Fricke. Er ist Schäfer im Werksviertel am Ostbahnhof und froh darüber, dass Ben und die anderen Schafe hier auf dem Dach des Werk 3 über dem Irrsinn der Stadt thronen. Was war das für ein Trubel, als im vergangenen Oktober die Herde Skudden auf Münchens höchstgelegene Alm gebracht wurde. Zahlreiche Schaulustige drängten sich an die Absperrungen, zückten ihre Smartphones, Kameraleute sprangen herum, ein Pfarrer nebelte die Neuankömmlinge mit Weihrauch ein. Gerade klein gehalten hatte das Werksviertel den Almauftrieb nicht, viele, die hier zumeist als Selbständige in Start-ups arbeiten, standen in ihrer Mittagspause Spalier. Und auch nach dem Einzug der Schafe war erst einmal keine Ruhe. Besucher rannten mit dem Zeitungsartikel in der Hand durch das Werksviertel und wollten die Tiere besichtigen, manch einer machte im Winter gar Frickes Privatnummer in Pöcking ausfindig und fragte, ob er seiner Angebeteten oben auf der Almhütte vor den Rooftop-Schafen einen Antrag machen und ob er, Fricke, dazu Glühwein ausschenken könnte.

Nikolas Fricke schüttelt den Kopf. Nein, der Hype hat ihm damals nicht gefallen. Er mag es nicht, den Menschen ihre Bitten abzuschlagen. Aber noch weniger mag er es, seine Schafe zur Schau zu stellen. Inzwischen leben Walliser Schwarznasenschafe auf dem Dach, drei Mutterschafe, ein Bock, zwei Jungtiere. Die Tiere hat Fricke aus seiner eigenen Herde am Starnberger See genommen und gegen die Skudden ausgetauscht. Skudden, eine Rasse, die vom Aussterben bedroht ist, "haben einen ausgeprägten Fluchtsinn", erklärt er. Auch wenige Besucher bedeuteten für die Schafe zwangsläufig Stress. Bei den Schwarznasenschafen ist das anders, die gelten als sehr ruhig und gemütlich. Reine Schafsbesichtigungen gibt es dennoch auch weiterhin nicht, "das machen wir auf keinen Fall". Die Tiere werden Besuchern nur bei allgemeinen Führungen durch das Werksviertel gezeigt, sonst ist der Bereich gesperrt.

Wäre er es nicht - er hätte sich auch ohne Lämmchen Ben längst zu einem Geheimtipp entwickelt. Die Pauli-Otto-Eckart-Hütte liegt - laut Schild über dem Eingang offiziell ausgewiesen - 59,64 Meter über der Isar, hier ist man fast auf Augenhöhe mit den Kränen, die im Werkviertel ein Hotel und später einmal das Konzerthaus bauen. Der Besucher blickt direkt über München, ohne etwas von der Hektik der Stadt mitzubekommen. An schönen Tagen schaut man bis in die Alpen. Birnenbäume wachsen und tragen Früchte, Wasser plätschert in die Holztränke, drei Bienenvölker, die inzwischen auf dem Dach angesiedelt sind, summen durch die Luft. Der Ort habe sich zu einem kleinen Mikrokosmos entwickelt, schwärmt Fricke. Mit dem blühenden Klee kamen die Insekten, mit den Insekten kamen die Vögel.

Eingebunden in ein Bildungsprojekt

Der eigentliche Grund, weshalb die Schafe hier oben gehalten werden, ist vor allem: Sie sollen das begrünte Dach als lebende Rasenmäher beweiden. Platz hätten hier oben bis zu zehn Schafe, doch so viele will Nikolas Fricke nicht halten. Das Gras reicht nur für vier bis sechs erwachsene Tiere, bei mehr müsste er zufüttern. Für Ben bedeutet das: Er wird zwar noch einige Monate auf dem Dach bleiben. Spätestens im Frühjahr wird er aber wohl an den Starnberger See in die Herde von Nikolas Fricke umziehen.

Nikolas Fricke hat die Schafe in ein Bildungsprojekt eingebunden, mit dem er Stadtkindern die Natur näherbringen will. In der "Almschule" lernen die Kinder - die meisten im Grundschulalter - Honig zu schleudern, Butter zu stampfen oder Gemüse und Kräuter im eigens angelegten Schulgarten anzupflanzen. Das Projekt gibt es seit April, es soll künftig in Zusammenarbeit mit den Vereinen "Lotse Kinder- und Jugendhilfe" und der "Brücke München" gezielt Familien aus ärmlicheren Verhältnissen ins Werksviertel holen. Familien, die sich nicht das Ticket für den Wildpark Poing oder den Tierpark Hellabrunn leisten können. Auch das Fell der Schwarznasenschafe findet Verwendung: Die Kinder dürfen damit filzen und Wolle spinnen, sie sollen merken, wie es sich anfühlt, wie fettig es ist.

Das Fell von Ben ist noch ganz weich und fein. Nikolas Fricke nimmt ihn auf den Arm nimmt und streichelt ihn. Sogleich kommt das Mutterschaft angetrabt und mäht den Schäfer solange an, bis er Ben wieder absetzt. "Sie ist eine ganz tolle Mama", sagt Fricke und blickt stolz auf seine Herde. Er wird die nächsten Wochen viel zu tun haben: Vor einer Woche kam ein zweites Lamm auf dem Dach von Werk 3 zu Welt, und ein drittes trächtiges Schaf wird die nächsten Tage werfen. Aber wann das der Fall sein wird, das wird die Stadt knapp 60 Meter tiefer nicht unbedingt erfahren.

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SZ vom 06.08.2018/smb
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