Süddeutsche Zeitung

Schadensersatz-Prozess:Frau seit 13 Jahren im Wachkoma

Eine Hochschwangere kam mit Verdacht auf "Hellp-Syndrom" ins Krankenhaus. Im Prozess konstatiert Gutachterin mehrere Ärztefehler.

E. Müller-Jentsch

In wenigen Tagen jährt sich ein dramatisches Ereignis zum 13. Mal, das eine junge Münchner Familie zerstört hat. In eine städtische Klinik war im Mai 1996 eine 26-jährige hochschwangere Frau gebracht worden: Bald darauf war das Neugeborene tot, die Mutter liegt seither im Wachkoma - und es gibt keine Hoffnung, dass sie jemals wieder aufwacht.

Um diesen dramatischen Fall wird nun schon seit acht Jahren prozessiert, derzeit vor dem Oberlandesgericht München. Der 1. Zivilsenat soll klären, wie viele Ärzte versagt haben und inwiefern womöglich auch die Klinikorganisation Schuld daran trägt. Es geht um Schmerzensgeld- und Schadensersatzforderungen, die noch nicht näher beziffert sind, aber angesichts der besonderen Tragik weit über einer Million Euro liegen dürften.

Die Münchnerin hatte nach unauffälliger Schwangerschaft plötzlich über Erbrechen, heftigen Schmerzen in der Magengegend und Durchfall geklagt. Das können neben einer gewöhnlichen Darmgrippe bei Schwangeren auch typische Anzeichen für das extrem gefährliche "Hellp"-Syndrom sein. Die Abkürzung setzt sich zusammen aus: H für Hämolyse (Blutzerfall), EL für erhöhte Leberwerte (englisch: elevated liver function tests), LP für niedrige Thrombozytenzahl (englisch: low platelet counts). Ein Hellp-Syndrom kann sich geradezu fulminant entwickeln, mitunter innerhalb einer Stunde.

Zeitaufwendige Behandlung

Obwohl bei diesem Verdacht jede Minute zählt, hatte ihr behandelnder Gynäkologe sie zeitaufwändig wegen des durchfallbedingten Flüssigkeitsverlustes mit einer Elektrolyt-Infusion behandelt. In der Krankenakte hatte er allerdings auch einen Verdacht auf Hellp notiert und ebenfalls, dass er seine Patientin deshalb aufgefordert hatte, umgehend zur näheren Analyse seine Belegklinik aufzusuchen. Die Frau habe sich jedoch geweigert.

Bald darauf war die werdende Mutter daheim mit schweren Krämpfen zusammengebrochen, ihr Mann hatte den Notarzt gerufen, der sie in eine städtische Klinik fuhr. Dort kam es zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand, eilig wurde ein Kaiserschnitt gemacht - doch das Kind starb kurz darauf und seine Mutter erlitt einen irreparablen Gehirnschaden.

Es geht vor Gericht seither um die Frage, ob zunächst der niedergelassene Gynäkologe adäquat auf die Situation reagiert hatte. Und auch, ob die diensthabende Klinikärztin es grob fahrlässig unterlassen hatte, umgehend ein Team für eine Notfalloperation zusammenzurufen. Denn der Notarzt hatte die Klinik telefonisch über den "eklamptischen" Krampfanfall sowie den "Hellp"-Verdacht informiert. Deshalb steht auch ein Organisationsverschulden des damaligen Krankenhausträgers, der Stadt München, im Raum.

Kritik am Vorgehen der Ärzte

In der Verhandlung am Donnerstagnachmittag erklärte die vom Gericht beauftragte medizinische Sachverständige, eine Chefärztin und Professorin für Frauenheilkunde, dass schon der niedergelassene Arzt Fehler begangen habe: Bei einer Schwangeren in der 35. Woche, die über Magenschmerzen klage, müsse vorrangig in einer Klinik der Verdacht auf das "Hellp"-Syndrom geklärt werden.

Solch einer Patientin müsse der niedergelassene Arzt unter allen Umständen verdeutlichten, dass es sich bei dieser "Schwangerschaftsvergiftung" um eine lebensbedrohliche Krankheit für Mutter und Kind handle. Mit der Infusion damals habe der Gynäkologe deshalb nur wertvolle Zeit vertan.

Ebenfalls kritisierte sie, dass danach trotz der Vorwarnung durch den Notarzt im Krankenhaus kein komplettes Operationsteam bereit gestanden habe: Anästhesist, verantwortlicher Arzt, Neonatologe, ein assistierender Arzt, sowie das OP-Personal. "Wenn bei der Ankündigung einer Patientin mit Verdacht auf Hellp-Syndrom und vorangegangenem Krampfanfall in einem Krankenhaus kein komplettes Operationsteam zur Verfügung steht, ist dies ein schwerwiegender Fehler, der einem solchen Krankenhaus schlechterdings nicht unterlaufen darf", stellte die Sachverständige fest. Schließlich müsste man in solch einer Situation immer mit dem Schlimmsten rechnen.

Auch, dass die Anästhesistin dann erst 18 Minuten nach ihrer Benachrichtigung erschienen sei, halte sie "für einen nicht mehr verständlichen Fehler". Wäre die Anästhesistin früher da gewesen, hätte auch früher ein Not-Kaiserschnitt vorgenommen werden können: "Die Indikation dazu stellt aber nur der jeweilige Anästhesist in eigener Verantwortung."

Wie heute der Zustand der Mutter in diesem Fall gewesen wäre, lasse sich allerdings nicht sagen. "Doch der Zustand des Kindes wäre dann wahrscheinlich günstiger gewesen", meinte sie. Unverständlich sei ihr auch, warum nach Eintreffen der Patientin in der Klinik nicht frühzeitiger die kindlichen Herztöne überprüft worden seien - je nach Ergebnis hätte das Kind sofort geholt werden können.

Deutlich unterversichert

Der 1.Senat des Oberlandesgerichts will am 28. Mai den Beteiligten seine vorläufige Einschätzung des Prozessverlaufs darlegen und ihnen erneut einen Vergleichsvorschlag vorlegen. Ein solcher Vorstoß, den langwierigen Prozess durch eine freiwillige Zahlung zu beenden, war allerdings 2007 schon einmal gescheitert: Wie berichtet, hatte der niedergelassene Gynäkologe damals zu erkennen gegeben, dass er - gemessen am Millionen-Vorschlag des Gerichts - deutlich unterversichert sei.

Der Anwalt der betroffenen Frau wiederum hatte eine Million für deutlich zu gering gehalten. Ebensowenig mochte der Rechtsanwalt der Stadt auf den Vergleichsvorschlag eingehen, der sich damals noch sicher zeigte, dass dem Krankenhausträger kein Organisationsverschulden nachgewiesen werden könne.

In erster Instanz, beim Landgericht München I, war dieser tragische Fall lediglich vorläufig mit einem so genannten Grund- und Feststellungsurteil abgeschlossen worden. Die 9. Zivilkammer hatte 2005 festgestellt, dass von ursprünglich sieben Beklagten lediglich die Stadt München und die diensthabende Klinik-Fachärztin eine Schuld treffe. Diese beiden hatten dagegen Berufung beim OLG eingelegt. Aber dort sind inzwischen - wie die letzte Verhandlung gezeigt hat - die Karten in diesem schier endlosen Verfahren nun neu gemischt worden (Aktenzeichen: 1U1716/06).

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Quelle:
SZ vom 27.04.2009/brei
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