Sankt-Jakobs-Platz:"Mehr als nur tränenreiche Geschichte"

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Es ist Lachen und Tanzen und Klatschen auf dem Jakobsplatz: Mitglieder des Jugendzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde beim Flashmob. (Foto: Catherina Hess)

Festakt und Ausstellung zu 1700 Jahre jüdisches Leben

Von Bernd Kastner

Sie spielten mit den Buchstaben, gingen das Alphabet durch, und es wuchs eine Geschichte, eine große Geschichte. Sie fängt an bei A wie Abraham de Municha, und endet bei Z noch nicht, sondern beschleunigt noch mal. Z wie Zuwanderung. Zuwanderung wie Zukunft. Es ist die Geschichte des jüdischen Lebens in München, das Ellen Presser und Sibylle von Tiedemann in 24 Buchstaben auf acht Litfaßsäulen präsentieren. Sie stehen bis Oktober auf dem Jakobsplatz, neben der Synagoge. Die Freiluft-Ausstellung feiert 1700 Jahre, die es nachweislich jüdisches Leben auf einem Gebiet gibt, das sich lange nach dem Jahr 321 den Namen Deutschland gab. Seit etwa 800 Jahren leben Jüdinnen und Juden auch in München. Diese vielen hundert Jahre sind "mehr als nur tränenreiche Geschichte", sagt Charlotte Knobloch, als sie am Sonntag die Ausstellung eröffnet.

Abraham aus München ist der erste jüdische Mensch, über den sich etwas in einer Urkunde findet. Man weiß immerhin, dass er 1229 in Regensburg als Zeuge in einem Rechtsstreit aussagen musste. Es dürfte damals eine kleine jüdische Gemeinde in München gegeben haben. Das nächste historische Dokument, das es zum jüdischen Leben in München gibt, stammt aus dem Jahr 1285, es handelt von einem Pogrom.

Sie haben also gespielt mit den Buchstaben, um die Geschichte nicht chronologisch zu erzählen, sondern thematisch. B wie Bajuwarisches, H wie Heimat, K wie Koscher, O wie Olympia. Sie wollten nicht immer das Naheliegende tun, sagen Presser und von Tiedemann, und so steht N nicht für Nationalsozialismus, sondern für "Nie Wieder-Sehen". Es ist eine Säule entstanden, die einem das Herz zerreißt, auch 80 Jahre später. Abgebildet sind Dokumente des Hoffens, Briefe, die nach New York gingen oder im Sammellager Milbertshofen geschrieben wurden. Das Hoffen war vergeblich. Die Schülerin Ilse-Lotte Nussbaum wurde mit ihrer Mutter nach Auschwitz deportiert, von dort schrieb sie am 15. Juni 1943 nach München an ihren Freund Walter Geismar: "Mein lieber Walter! Ich bin gesund. Mir geht es gut. Bin mit Mutti beisammen. Bleibe tapfer. Auch ich lasse mich nicht unterkriegen. Vergiss mich nicht und schreibe sofort." Ilse-Lotte wurde ermordet, sie wurde 15 Jahre alt.

Kein Blick auf die jüdische Geschichte kommt ohne Erinnerung an die Shoa aus, auch nicht am Jakobsplatz, dem in München sichtbarsten Zeichen des Triumphes über den Terror. "Heute sind jüdisches Leben und jüdische Kultur in München wieder selbstverständlich", sagt Oberbürgermeister Dieter Reiter und appelliert, die Vielfalt der jüdischen Gegenwart nicht zu vergessen.

Horst Seehofer, als Bundesinnenminister wichtiger Geldgeber für die 1700-Jahr-Feiern, macht aus seiner Ansprache eine Hommage an Charlotte Knobloch. Er erinnert an den Auftritt der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde im Bundestag im Januar. Sie habe einen "tiefen, tiefen Eindruck" bei den Abgeordneten hinterlassen. Seehofer zitiert Knobloch: "Passen Sie auf unser Land auf!" Das habe sie den Politikerinnen und Politikern zugerufen, weil "wir" so stolz auf diese Bundesrepublik sein könnten. "Ganz, ganz stolz" sei er selbst, der Bayer und Minister, in diesem Moment gewesen, solche Worte von Charlotte Knobloch zu hören. Seehofer verspricht, weiterhin gegen die größte politische Gefahr in Deutschland zu kämpfen, den Rechtsextremismus. Glücklich werde er erst dann sein, wenn in diesem Land Jüdinnen und Juden, jüdische Einrichtungen und jüdische Veranstaltungen nicht mehr geschützt werden müssten.

"Deutsche Geschichte ist immer auch jüdische Geschichte", sagt Charlotte Knobloch. Für sie ist das Festjahr "Beweis dafür, dass am jüdischen Leben hierzulande nichts fremd ist". Jüdinnen und Juden seien "kein Anhängsel und keine Fußnote der deutschen Geschichte. Nein, wir gehörten und gehören von Anfang an dazu". Dies immer wieder betonen zu müssen, ist wiederum bezeichnend für diese deutsche Geschichte. Knobloch will aber nicht das Trauern über den Zivilisationsbruch unter den Nationalsozialisten oder das Beklagen des Antisemitismus dominieren lassen an diesem Tag. Und so erinnert sie an etwas, das inzwischen so selbstverständlich wirkt, dass es allein deshalb ein grandioser Erfolg ist: Vor knapp 15 Jahren wurde die neue Synagoge am Jakobsplatz eingeweiht. Aus ihrem Büro schaue sie jeden Tag auf die Menschen auf diesem Platz, wie sie flanieren oder ihre Kinder im Springbrunnen spielen lassen. "Es ist ein perfektes Bild für das Miteinander, das entstanden ist, und mir geht jeden Tag aufs Neue das Herz auf. Das Nebeneinander, das ich fast mein ganzes Leben lang gekannt hatte, ist Gott sei Dank vorüber."

© SZ vom 26.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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