Süddeutsche Zeitung

Sanitätsstation auf dem Oktoberfest:"Ich habe noch nie so viele Männer weinen sehen"

Manche Patienten kommen in Handschellen, andere ohne Namen. Blasenpflaster gibt es gratis und Bierleichen haben einen Codenamen. Ein Tag Wiesnwahnsinn auf der Sanitätsstation des Oktoberfests.

Von Anna Fischhaber

Gute Wiesn-Gschichten bleiben gut. Wir haben die schönsten Texte der vergangenen Jahre aus dem Archiv gekramt. Der folgende Artikel erschien 2014.

Auf der Wiesn versorgen bis zu 100 ehrenamtliche Sanitäter und zehn Ärzte Tag für Tag Bierleichen, Prügelopfer - und manchmal den Angreifer gleich mit. Wer auf der Sanitätsstation des Münchner Roten Kreuzes auf der Theresienwiese arbeitet, muss einiges mitansehen. Protokoll eines ganz normalen Arbeitstages.

12.00 Uhr: Im Schottenhamel hat die Blaskapelle gerade angefangen zu spielen, auf dem Hügel dahinter liegen schon die ersten Lederhosen. Zwischen Bierzelt und Bierleichen schwebt ein weißer Ballon mit rotem Kreuz vorm weiß-blauen Himmel. Darunter ein schwarzer Flachbau, die Sanitätsstation des Roten Kreuzes auf dem Oktoberfest. "Die Gäste kneifen und beißen immer mehr", sagt der Security-Mann am Empfang und zeigt seinen lädierten Daumen. Noch ist es hier ruhig. Noch können die meisten Patienten selbst laufen.

13.05 Uhr: Es klopft an der Tür zum Überwachungsraum. Dem jungen Mann ist schwindelig. Er hat gestern zu viel gefeiert und heute gleich weiter, zumindest trägt er schon wieder Tracht. "Falsche Tür", sagt die Sanitäterin. Der Überwachungsraum ist für Bierleichen reserviert. Neben jedem Bett steht ein umgedrehter Staubsauger, mit dem sich die Wärmedecke aufpumpen lässt. Und ein Mülleimer, falls das Bier wieder raus will. Der Boden ist gefliest - das macht das Putzen einfacher, falls mal etwas danebengeht. Auf einer Tafel haben die Sanitäter Uhrzeiten notiert. Noch läuft ihre Wette, wann die erste Bierleiche kommt.

13.10 Uhr: Ein Mann in Lederhose mit blutigem Kopfverband wird eingeliefert. Er ist von einer Bierbank getürzt. Hinter der grauen Tür mit der Aufschrift "Akutbehandlung" liegt ein älterer Mann mit nacktem Oberkörper und vielen Schläuchen - Herzprobleme. Er muss wohl in die Klinik. Komplizierte Fälle können auf der Sanitätsstation nicht behandelt werden. Obwohl: Vergangenes Jahr wurde ein Mann nach einem Herzstillstand im Bierzelt wiederbelebt.

14.05 Uhr: Lucy kommt. Eine Bierleiche mit "Küss mich"-Herz um den Hals. Lucy, kurzes rotes Dirndl, lange rote Haare und im Moment ein wenig blass, hat angeblich nur eineinhalb Mass getrunken, für das Bett ist sie dennoch dankbar. Wette gewonnen! Die Einsatzleiterin grinst. Jahrelang hat sie als Bedienung im Schottenhamel gearbeitet. Jetzt ist sie auf der anderen Seite - ehrenamtlich. Will man für ein paar Bierleichen wirklich seine Freizeit opfern? Verwunderter Blick. Hier hilft man gern jedem. Außerdem sind die Gäste netter als im Bierzelt: "Resolut muss man sein", sagt die Frau. "Aggressiv ist aber kaum jemand. Im Gegenteil: Ich habe noch nie so viele Männer weinen sehen."

14.10 Uhr: Jetzt leuchten im Überwachungsraum nur noch 13 Betten grün. Grün heißt: frei. Gelb heißt: besetzt. Rot: ab nach Hause. Blau: Abtransport ins Krankenhaus.

14.20 Uhr: Bis in den Keller dringt weder Blasmusik noch Licht, hören kann man den Wiesnwahnsinn trotzdem. In der Einsatzzentrale gibt es einen detaillierten Lageplan des Festgeländes, von hier aus werden die Sanitäter mit Trage losgeschickt, über Funk ist man ständig in Kontakt. "Da liegt einer", melden die Sanitäter von draußen. Oder: "Moritz 3 - bitte kommen". Moritz heißt Vergiftung, Moritz 3 Bierleiche.

14.25 Uhr: Über Funk meldet sich ein Sanitätsteam aus dem Bierzelt: "Wir brauchen noch einen Rettungswagen. Wirbelsäulenverletzung." Seit 130 Jahren arbeitet das Rote Kreuz auf der Wiesn - damals noch mit Uniform und Schubkarren. Inzwischen haben es die Patienten gemütlicher: Wer nicht mehr laufen kann, wird in einer Trage gebracht. Eine gelbe Plastikplane schützt vor unangenehmen Blicken. "Gelbe Banane" heißt die Trage deshalb auch. Für eine Wirbelsäulenverletzung rumpelt es zu sehr. Der Patient muss deshalb warten: Mit dem Rettungswagen durch die Menschenmenge auf der Wirtsbudenstraße, das dauert.

15.01 Uhr: "Ich brauche eine Tablette gegen kalt" - das ist der Lieblingsspruch am Empfang an diesem Tag. Helfen kann dem Mann niemand, dabei gibt es hier Kopfwehtabletten und Tampons kostenlos - und immer wieder Blasenpflaster. "Heute muss wieder eine neue Schuhlieferung gekommen sein", sagt ein Helfer und holt eine neue Packung. Knapp 1500 Blasenpflaster verschenkt das Rote Kreuz in 16 Tagen Wiesn.

16.10 Uhr: Im Überwachungsraum ruft ein Mädchen: "Oh, this is horrible." Dann schläft sie ein. Neben ihr wacht Lucy auf und rennt zum Spiegel. Das tut ihr nicht gut. Zum Glück ist ein Eimer in Reichweite. Aber Lucy will jetzt nicht mehr schlafen, sie will weiterfeiern. "No beer, just socialize!" Sie zieht sich die Lippen rot nach, kramt nach einem Kaugummi, und ist verschwunden, ehe sie jemand auf den Kotzefleck auf ihrem Dirndl aufmerksam machen kann. Hoffentlich kommt sie nicht bald wieder. "Wir haben viele Stammgäste hier", sagt ein Arzt. "Manche kommen auch mehrmals am Tag."

16.26 Uhr: Am Hintereingang warten ein Chirurg, ein Orthopäde und ein Kardiologe, dass neue Patienten angeliefert werden. Wiesn, das ist für sie wie Klassentreffen. Alle drei sind seit Jahren dabei, alle drei kennen Horrorgeschichten: Über den Amerikaner, dem seine Freundin die komplette Unterlippe abgebissen hat. Über den Australier, der sich sein bestes Stück im Reißverschluss eingeklemmt hat, über die Zunge, die sie erst gestern aus einer Zahnspange befreien mussten. Und natürlich über die vielen Prügelopfer. "Hier arbeiten ist super, immer was los", sagt ein junger Arzt. "Privat gehe ich nur vor 20 Uhr aufs Oktoberfest. Danach ist es einfach zu gefährlich."

17.30 Uhr: Was die Helfer am Empfang bislang ausgegeben haben:

Kopfwehtabletten: 5.

Pflaster: 60.

Sonstiges: 7.

18.48 Uhr: Vor dem Behandlungszimmer wird es jetzt voll. Eine betrunkene Amerikanerin sucht ihren Freund, dann ihre Zigaretten. Ein junges Mädchen weint bitterlich, ihr ist so schlecht. Und "Julius, drei Mass, lag an der Bavaria" wird auf einer Trage eingeliefert. Er sieht nicht aus, als würde er in den nächsten Stunden aufwachen. "Ansprechbar ist er noch, nur sagen kann er nicht mehr so viel", erklärt ein Sanitäter. Der Gong für den Rettungseinsatz ist jetzt öfter zu hören, auch das Reinigungsteam hat plötzlich viel zu tun.

18.50 Uhr: Ein Mann lässt sich auf den Stuhl vor dem Behandlungsraum fallen. Sein Auge tränt. Ein Bierkrug hat ihn mit voller Wucht getroffen. "Hornhaut, das ist gefährlich. Da können wir nichts tun", sagt ein Arzt. Und zum Patienten: "Eye. Krankenhaus. You understand?" Wer hier arbeitet, muss Englisch können. Die meisten Patienten sind Australier, erzählt ein Arzt. Gefolgt von Engländern und ziemlich vielen hysterischen Amerikanerinnen.

19.06 Uhr: Polizisten bringen einen Mann mit Blutflecken auf dem Hemd in die Sanitätsstation. "Achtung, jetzt kommt sein Gegner", ruft ein Beamter, als die Kollegen einen bulligen Australier in Handschellen hereinführen. Sein Ohr sieht seltsam zerknautscht aus, Blut rinnt über den Hals. Beide müssen genäht werden, ihre Betten sind nur durch einen blauen Vorhang getrennt. Es wird nun sehr eng im Behandlungszimmer, denn die Beamten bleiben und passen auf, dass das Handgemenge nicht weitergeht. Was genau passiert ist, kann niemand sagen. Nur, dass der Australier offenbar als Erster zugeschlagen hat.

19.30 Uhr: Auch im Gang ist es jetzt voll. Eine entnervte Mutter holt ihren 17-jährigen Sohn ab, der nach Stunden im Überwachungsraum wieder erstaunlich nüchtern wirkt. Der Australier mit dem blutigen Ohr wird abgeführt. "Der bekommt jetzt eine saftige Strafe", sagt ein Arzt. Der Mann lacht, wirft einer Sanitäterin eine Kusshand zu, dann verschwindet er singend.

20.10 Uhr: Am Empfang schimpft ein Mädchen. Sie ist umgeknickt. "Der Arzt konnte nichts tun", sagt sie. Ihre Freunde machen sich mehr Gedanken über den Biertisch, der jetzt weg ist. Heimgehen? Offenbar keine Option.

20.15 Uhr: Auch Adam ist sauer. "Fuck, fuck", schreit er immer wieder, dann fängt er an zu weinen. Adam hat ein Veilchen unter dem Auge, seine Nase blutet. Schuld waren natürlich die anderen und jetzt ist auch noch sein Freund weg. Neben ihm suchen zwei junge Männer ihre britische Freundin - ins Zelt ist sie nicht mehr reingekommen, zu betrunken. Auf der Toilette sei sie gestürzt, dann wurde sie abtransportiert, sagt die Toilettenfrau. "Name," fragt der Helfer am Empfang und sieht im Computer nach. Doch inzwischen liegen auf der Sanitätsstation gleich fünf Patienten, die ihren Namen nicht mehr angeben konnten. "Später wiederkommen", rät er den beiden.

20.17 Uhr: Für Adam gibt es ein Happy End. Plötzlich ist sein Freund wieder da. Die beiden umarmen sich, der junge Mann wischt sich die Tränen weg. Dann geht es zurück ins Bierzelt.

22.50 Uhr: Im Bierzelt ist gleich Feierabend, auf der Sanitätsstation nicht. Die Polizei bringt jetzt die, die liegen geblieben sind. Die Bilanz des Tages wird schließlich lauten: 402 Patienten, 114 Einsätze mit Trage, 36 Alkoholintoxikationen, 34 chirurgische Wundversorgungen, 39 Abtransporte in umliegende Kliniken. Wiesnwahnsinn eben. Auf der Sanitätsstation nennt man so einen Tag: ein ruhiges Einsatzgeschehen ohne Besonderheiten.

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