Süddeutsche Zeitung

Salafismus:Wie ein Jugendlicher radikalen Predigern in die Arme läuft - und sich wieder befreit

Hakan ist ein deutsch-türkischer Jugendlicher aus München. Er fühlt sich ausgeschlossen und abschätzig behandelt - bis er den Islam für sich entdeckt.

Von Jonathan Fischer

Hakan ist glücklich. So glücklich wie lange nicht mehr. Wenn er von seinem ersten Besuch beim Islamunterricht eines Münchner Moscheevereins erzählt, liegt ein Glanz in seinen großen Jungen-Augen. Auch jetzt noch, einen Tag später in einem schlichten Café in Obergiesing: "Alle waren sich einig", sagt er, "es kann kein Zufall sein, dass ich ausgerechnet an diesem Tag zu ihnen komme, diesem besonderen Abend, an dem ein saudischer Prediger zu Gast ist."

Hakan (Name geändert), kräftige Figur, Kinnbart, Bürstenfrisur, ist sonst nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Im Gegenteil. Er wirkt oft viel ernster, erwachsener, als er das mit seinen 18 Jahren nötig hätte. Jetzt aber strahlt er wie ein Fußballstürmer, der seine Mannschaft gerade in Führung geschossen hat. "Sie haben gesagt, dass ich ein Auserwählter bin. Und dass der Prediger - ein direkter Nachfahre unseres Propheten - am jüngsten Tag ein Wort für mich einlegen wird." Der Elektrikerlehrling zieht ein buntes, kleines Fläschchen aus seiner Jackentasche. Ein teures orientalisches Parfum. "Das haben sie mir geschenkt. Als Zeichen dafür, dass ich als Bruder zu ihnen gehöre."

Hakan hat sich den Namen des Predigers nicht gemerkt. Er hat auch keine Ahnung davon, welche Organisation hinter diesem Moscheeverein steckt, hinter dieser Wohnzimmermoschee nicht weit von der Isar, in die ihn ein paar Freunde aus seiner Vorstadt-Clique aus dem Münchner Osten eingeladen haben. Aber er fühlt sich angenommen. Und das ist für jemanden, dem immer der Stempel des Außenseiters, des Störenfrieds und Versagers aufgedrückt wurde, ein großartiges Gefühl.

Wenn muslimische Jugendliche in einer Lebenskrise den Glauben als Ersatzheimat finden, dann ist das erst mal eine sehr verständliche Reaktion. Wo finden sie eine Gemeinschaft, die sie bereitwilliger aufnimmt? Wer sonst könnte ihnen moralischen Halt bieten? Und was vermag tröstlicher zu sein, als der alltäglichen Frustration im Job und in der Familie ein religiöses Heilsversprechen entgegenzusetzen? Salafisten und Hetzprediger bemühen sich besonders um ausgegrenzte und seelisch verwahrloste Jugendliche.

Um sie erst freundlich zu umarmen und dann nach und nach zu radikalisieren. So lief es mit den Migranten-Jugendlichen von Ripoli, den späteren Attentätern von Barcelona, die erst bei einem selbsternannten Imam Halt fanden, nach und nach ihre Hemmungen ablegten und an dessen verschrobene Koran-Auslegung zu glauben begannen, die ihnen erlaubte, willkürlich Menschen zu töten, mit denen sie an einem anderen Tag die Busbank oder den Platz im Schnellrestaurant geteilt hätten. Alles im Namen einer höheren Gerechtigkeit, natürlich.

"Ich habe da so eine Bruderliebe gespürt", begeistert sich Hakan für den Islamunterricht. "Die haben gesehen, dass ich ein wertvoller Mensch bin." Heilende Worte. Fast scheint es, als ob jemand den Schlüssel zu der Tür in seinem Inneren gefunden hätte. Warum aber hat niemand anderes den "wertvollen Menschen" in ihm gesehen? Die Eltern, die Lehrer, Freunde? Oder eine Freundin? Hakan nippt an seiner Cola. Nein, er habe noch nie eine Freundin gehabt.

Hakan sah sich als Opfer und traf sich mit einer Migranten-Clique zum Kiffen

Da ist wieder diese Starre, die an ihm öfters zu beobachten ist. Eine Lähmung, die jeden Überschwang, jede allzu leichtfüßige Freude ausschließt. "Zumindest weiß ich jetzt, dass ich auch gar keine Freundin brauche. Der Prediger hat gesagt, Beziehung ist Sünde. Nur die Ehe hat vor Allah Bestand." Hakan findet das tröstlich. Zwei Jahre ist das jetzt etwa her. Dass er selbst bald der "Sünde" anheimfallen, ja sie sogar stolz präsentieren wird, das erscheint da noch als undenkbar.

Dabei stammt Hakan - typischerweise für die Rekruten radikaler Prediger - aus einem ziemlich weltlichen Elternhaus. "Mein Vater hat mich nur ein paar Mal in einen Gebetsraum mitgenommen", berichtet er. "Ansonsten war Religion bei uns kein Thema." Bis Hakan, der als Kind von einer Karriere als Fußballprofi träumte, am Freitagnachmittag nicht mehr zum Bolzplatz wollte. Sondern in die Moschee. Bis er anfing, Suren zu zitieren. Und zu referieren, was alles haram, also verboten sei. "Mein Vater war schockiert", sagt Hakan. "Er fing an, mit mir über Religion zu reden. Das war ich gar nicht gewohnt." Miteinander geredet wurde in seiner Familie kaum. Erst recht nicht über sich selbst, über Gefühle, über Spiritualität.

Hakan ist der jüngste von drei Brüdern. Seine Eltern führten, wie so viele türkische Immigranten ihrer Generation, eine arrangierte Ehe. Sie lief nicht gut. Die zu Depressionen neigende Mutter redete immer weniger, und Hakan war derjenige, der sich vor allen anderen für sie verantwortlich fühlte. Der Vater war meist außer Haus. Neben der Schichtarbeit in einer Autofabrik arbeitete er als Taxifahrer, um die Miete und die Ausbildung der drei Söhne zu finanzieren. "Er hat sich, glaube ich, ein anderes Leben gewünscht", sagt Hakan. "Alles, was er sich wünscht, ist, dass wenigstens wir keinen Mist bauen."

Die älteren Brüder machten alle höhere Schulabschlüsse und fanden gut bezahlte Jobs. Sie konterten das Handicap ihrer Herkunft mit doppeltem Ehrgeiz, Hakan aber reagierte trotzig: Er bekam Verweise wegen Schlägereien. Flog wegen Aufsässigkeit von der Schule. Und brach dreimal hintereinander eine Lehre ab. Zu viel Eigensinn, zu wenig Motivation - das behaupteten die Ausbilder. Hakan selbst sah sich eher als Opfer. Er traf sich mit einer Migranten-Clique zum Kiffen. Und palaverte mit den Kumpels über Verschwörungstheorien und die im Koran angekündigte Endzeit. Was man so redet, um sein Außenseitertum mit Bedeutung aufzuladen.

"Ich wusste nicht viel über den Islam", sagt Hakan, "bis einige aus der Clique ausstiegen und stattdessen täglich Koransprüche posteten." Sie luden ihre Kumpels zum Koran-Unterricht. Was Hakan dort hörte, begeisterte ihn. "Was für ein Quatsch, immer dem Islam die Schuld am Terrorismus zu geben", sagt er. "Allah ist der Allgütige. Niemand darf töten, vielmehr befreit uns das Beten von unseren schlechten Taten und Gedanken."

Er rollt fünfmal am Tag die Gebetsmatte aus. Er fastet. Er liest religiöse Schriften. Hakans Vater erkennt seinen Sohn nicht wieder. Er bekommt Angst, dass Hakan in den Fängen von Extremisten landet, er schimpft, als er einen von Salafisten in der Fußgängerzone verteilten Koran bei seinem Sohn findet. Einerseits. Andererseits freut er sich über Hakans neue Disziplin: "Früher hing er die halbe Nacht vor dem Fernseher, verschlief oft die Arbeit. Jetzt steht er pünktlich auf", sagt er. "Seine Arbeitgeber loben seine Disziplin. Und wenn mein Sohn abends heimkommt, hilft er mir beim Kochen."

Hakan stellt sein neues Leben auf Facebook aus. Früher waren es nur Fußballmeldungen und deutsche Rapsongs. Nun postet Hakan vor allem Religiöses: Koransprüche, Bilder der Moscheen von Mekka, islamische Hilfsprojekte in Syrien. Er teilt, was andere Freunde online stellen. "Wenn es den Islam in ein gutes Licht stellt, ist mir egal, woher das kommt", sagt Hakan. Aber dann gerät Hakan immer weiter in den Sog salafistischer Seiten wie "Islamisch" oder der inzwischen verbotenen "Lies!"-Kampagne.

Hier wimmelt es nur so von Geboten: Schminken ist für Frauen haram. Verschleierung muss sein. Wer als Mann keinen Bart trägt, wird bestraft. Wer Alkohol trinkt, ebenfalls. Hakan will alles richtig machen. Endlich eine Ordnung, die er aus ganzem Herzen respektieren kann. "Salafist zu sein, heißt doch nur, dass man den Islam nach der Art der Alten lebt", verteidigt sich Hakan. Was aber treibt junge Menschen ausgerechnet zu religiösen Gruppierungen, die eine mittelalterliche Auslegung des Islam betreiben?

"Migranten und Muslime werden noch in der dritten und vierten Generation in Deutschland aufgrund ihres Namens, Aussehens und der sozialen Zugehörigkeit benachteiligt und ausgegrenzt", sagt Samy Charchira, Sozialpädagoge und Sachverständiger bei der Deutschen Islamkonferenz. "Das macht es extremistischen Gruppierungen leichter, die gesellschaftliche Abkapselung der Jugendlichen als Einstieg in eine fatale soziale Aufteilung von ,wir' und ,die anderen' zu unterstützen."

Hakan sagt das oft: Dass er trotz Geburt in München und trotz eines deutschen Passes nicht dazugehöre. Dass manche Lehrer ihn abschätzig behandelten. Dass sich die halbe Welt gegen die Muslime verschworen habe. Dieses Lebensgefühl teilt Hakan mit einem Gros der muslimischen Migrantenkinder. Religiöse Eiferer nutzen das aus. Etliche Studien belegen, dass Diskriminierungserfahrungen, Perspektivlosigkeit und Islamfeindlichkeit die Radikalisierungsversuche extremistischer Gruppen begünstigen. Wie "gesellschaftliche Brandbeschleuniger", sagt Charchira.

Inwischen hat Hakan die salafistischen Seiten auf Facebook entfreundet

Hakan aber hat Glück. Sein Vater hat angefangen, mit ihm zu reden. Er erklärt ihm, dass verschiedene Muslime verschiedene Wege zu Gott fänden, dass ein Bier nicht für jeden eine Todsünde sei. Auch einige Freunde hinterfragen die Koranauslegung der Salafisten. "Einmal", erzählt Hakan, "habe ich in einer Moschee gefragt, ob ich während des Ramadans die Zähne nicht lieber mit einem Hölzchen putzen soll. Damit ich nicht versehentlich Wasser schlucke. Da hat der Imam nur gelacht: Wozu hat Allah uns Zahnbürste und Wasserbecher gegeben?"

Vor allem aber ist Hakan ein Gerechtigkeits-Fanatiker. Er macht sich Gedanken darüber, wie er anderen helfen könnte, und erzählt ganz stolz, wenn er etwa in der S-Bahn einen fremden Geflüchteten angesprochen hat. Das Miteinander, das er in der Familie nie hatte - er sucht es jetzt da draußen in der Welt. "Als einige von meiner Clique zusammen das Fastenbrechen feiern wollten, aber unsere christlichen Kumpels nicht mit einluden, habe ich protestiert: Haben wir nicht den gleichen Gott?" Noch immer postet Hakan Koransuren. Doch nun hat er die salafistischen Seiten entfreundet.

Und dann erzählt er immer öfter von einer Mitschülerin. Beziehung gleich Sünde? Nein, solche Verdammungen scheinen jetzt aus einer anderen Welt zu kommen, einem Parallel-Universum, in dem enttäuschte menschliche Bedürfnisse religiös überhöht werden. "Ihr geht es gerade schlecht!", sagt Hakan über seine Angebetete. "Weil ihre Oma gestorben ist. Jetzt versuche ich, sie jeden Tag mit einer SMS aufzumuntern." Vor Kurzem hat Hakan sein Profilbild geändert. Man sieht ihn zusammen mit einem ziemlich hübschen türkischen Mädchen ohne Hijab, ohne Kopftuch. Seine erste Freundin.

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SZ vom 21.10.2017/mkro
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