Süddeutsche Zeitung

Russenrad auf der Auer Jakobi-Dult:90. Geburtstag des wohligen Kribbelns

Es dreht sich noch genau so wie zu seiner Premiere - gesteuert durch eine mit Salz und Wasser gefüllte Wanne: Das Russenrad feiert Jubiläum.

Von Wolfgang Görl

An diesem Wochenende, wenn die Auer Jakobidult beginnt, wird Herbert Koppenhöfer wieder seinen Arbeitsplatz am Kurbelrad des "Salzwasser-Anlassers" einnehmen, genau so wie es sein Großvater Josef Esterl erstmals vor 90 Jahren getan hat. Esterl, damals ein junger Familienvater aus Schwabing, hatte das Schusterhandwerk gelernt; weil aber seine Arbeit immer weniger abwarf, sah er sich nach einer neuen Einnahmequelle um.

Die Schaustellerei schien einen Versuch wert zu sein, und so nahm er einen Kredit auf und orderte bei der Karussellfabrik Gundelwein im thüringischen Wutha eine "Russische Schaukel". Bei der Auer Dult 1925 feierte Esterls neue Errungenschaft Premiere, und auch beim Oktoberfest im selben Jahr war der ehemalige Schuster dabei, um den Münchnern mit seinem 14 Meter hohen "Russenrad" leichte Schwindelgefühle und ein wohliges Kribbeln im Bauch zu verschaffen - eine Dienstleistung, welche die Familie des Firmengründers mittlerweile in dritter Generation anbietet.

Vier mal im Jahr wird das Russenrad aufgestellt

Edith Simon, die Schwester Herbert Koppenhöfers, ist stolz auf das großväterliche Erbe. "Wir repräsentieren unsere Familiengeschichte, das ist doch toll, wenn man das kann." Zur Maidult im Frühjahr karren sie ihr Russenrad per Zugmaschine aus dem Winterquartier heran, im Sommer steht die Jakobidult auf dem Terminplan und im Herbst die Kirchweihdult und selbstverständlich die Wiesn, wo das kleine Riesenrad einen Stammplatz neben dem der Krinoline hat - die beiden Fahrgeschäft verkörpern gewissermaßen die "oide Wiesn" weit außerhalb der "Oidn Wiesn".

Großvater Esterl hat seinerzeit sogar Gastspiele in Italien oder Finnland gegeben, wohin das zerlegbare Russenrad mit der Bahn transportiert worden war, und auch Heinz Koppenhöfer, der Vater, ist noch durch Bayern getingelt, überall dorthin, wo es Volksfeste und Dulten gab. Seine Kinder lassen es inzwischen ruhiger angehen. Die Feste in München - das muss genügen. "Wenn man sein Geld einteilt, kommt man gut über die Runden", sagt Herbert Koppenhöfer. In etwas schärferem Ton fügt er hinzu: "Und wenn einen die Vorschriften nicht auffressen."

Russenschaukeln, die Vorgänger der heutigen Riesenräder, gab es wohl schon im Zarenreich des 18. Jahrhunderts und im vorderen Orient. Die Münchner Oktoberfestbesucher kamen gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals in den Genuss einer Fahrt mit den kleinen Riesenrädern. Auf einem Foto aus dem Jahr 1899 ist ein Russenrad auf der Wiesn zu sehen. Das 50 Meter hohe Riesenrad der Schaustellerfamilie Willenborg, längst ein Wahrzeichen des Oktoberfests, wurde 1979 gebaut.

Stammgäste kommen wieder - mit Kindern und Enkelkindern

Während Koppenhöfer den Elektroantrieb per Hand steuert, sitzt seine Schwester im Kassenhäuschen. "Es ist eine schöne Arbeit", sagt sie. "Ich habe immer mit fröhlichen Leuten zu tun." Leute, die sie seit vielen Jahren kennt, Stammkunden, die schon als Kind mit den Eltern im Russenrad gefahren sind und die jetzt wiederkommen, mit ihren Kindern, ihren Enkeln. Einmal hat sich ein junges Paar während der Fahrt in einer der zwölf Gondeln verlobt, auch das geschah auf der Wiesn.

Überhaupt, erzählt Edith Simon, ist das alte Riesenrad bei Verliebten äußerst gefragt, vielleicht weil es von einer romantischen Aura umflort ist, die den modernen Turboschleudern fehlt. In überraschend flottem Tempo geht es auf und ab, und dazu tönt Musik aus der prachtvollen historischen Konzertorgel im Barock-Dekor. Ursprünglich hatte Esterls Russenrad eine geschnitzte und mit Malereien verzierte Fassade, die in den 1950er-Jahren ausgewechselt wurde. Der Antriebsapparat aber ist noch so wie vor 90 Jahren. Da ist eine Wanne, die mit Wasser und Salz gefüllt wird: der Salzwasser-Anlasser. Mit der Kurbel taucht Koppenhöfer die Elektroden ins salzige Nass, je tiefer sie sinken, desto schneller rotiert der Antriebsmotor. Nach acht bis zehn Runden dreht der Meister die Kurbel in die andere Richtung, die Fahrt ist vorbei.

Den Feierabend und die Nacht verbringt der Schausteller im Wohnwagen, der ebenfalls auf dem Mariahilfplatz steht. Daneben stehen die Gefährte der Kollegen, man kennt und schätzt sich. "Es ist ein freies Leben", schwärmt Edith Simon. Auer Jakobi-Dult, 25. Juli bis 2. August, geöffnet von 10 bis 22 Uhr, Mariahilfplatz

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SZ vom 25.07.2015/axi
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