Ruhen statt hetzen:Meditieren als Studienfach

Ruhen statt hetzen: Sitzen, möglichst an nichts denken und den eigenen Atem beobachten: Meditationsstunde mit Andreas de Bruin.

Sitzen, möglichst an nichts denken und den eigenen Atem beobachten: Meditationsstunde mit Andreas de Bruin.

(Foto: Stephan Rumpf)
  • Andreas de Bruin, 50, lehrt Meditation und Achtsamkeit an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
  • Mehr als tausend Studenten hat er in den vergangenen sechs Jahren unterrichtet. Inzwischen hat de Bruin sein Programm in neun Studiengänge integriert, vor allem in der Pädagogik und Sozialen Arbeit.
  • Meditation ist keine bloße Esoterik. Studien aus der Neurowissenschaft belegen, dass es bestimmte Hirnregionen aktiviert.

Von Martina Scherf

Blaue kleine Decken liegen im Kreis auf dem Boden und dicke bunte Sitzkissen. Zwanzig Studenten lassen sich darauf nieder, einige strecken sich aus, schließen die Augen. Es ist still im Raum. Aus hohen Fenstern fällt mildes Licht herein. Dann kommt der Professor. Setzt sich in Jeans und Pullover im Schneidersitz auf sein Kissen - und schweigt. Andreas de Bruin konzentriert sich, dann schlägt er einmal die Klangschale an. Langsam verklingt der Ton, bis de Bruin sagt: "Dann lassen Sie uns beginnen."

Meditation an der Hochschule. Das klingt für viele nach Weihrauch und Wellness. Aber Andreas de Bruin, 50, meint es ganz ernst. Er hat es zu einem richtigen Studienfach gemacht. Vor sechs Jahren hat er begonnen, mit Studierenden an der Hochschule München und an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) zu meditieren. Er hat sein Programm inzwischen in neun verschiedene Studiengänge integriert, vor allem in den Bereichen Pädagogik und Soziale Arbeit. Als "Münchner Modell" ist seine Initiative bekannt geworden, auch andere Hochschulen orientieren sich mittlerweile daran.

Die Nachfrage bei den Studenten ist groß. 150 von ihnen nehmen in diesem Semester an den Lehrveranstaltungen teil. Im Studium Generale hatten sich sogar 735 beworben, auf 20 Plätze. Dass Studenten sich immer öfter ausgebrannt fühlen, mag einer der Gründe sein, warum das Bedürfnis nach Ruhe, Konzentration und Selbstfindung wächst. Mit Ausruhen habe das Meditieren allerdings nichts zu tun. "Das ist harte Arbeit", sagt de Bruin.

"Arbeit ist der Quell des Lebens" steht passenderweise in großen Lettern an einer Wand der alten Villa, in der die Katholisch-Evangelische Hochschulgemeinde Pasing de Bruin einen Raum zur Verfügung stellt. Die jungen Leute sitzen jetzt konzentriert auf ihren Kissen. De Bruin teilt weiße Blätter aus. Darauf sollen sie in wenigen Worten schreiben oder zeichnen, in welcher Verfassung sie hier angekommen sind. Dann kündigt er eine Übung an: Sitzen, möglichst an nichts denken und den eigenen Atem beobachten.

Nach zwölf langen Minuten schlägt de Bruin wieder die Klangschale an. "Notieren Sie jetzt bitte, wie es Ihnen gerade ergangen ist und sprechen Sie kurz mit Ihrem Nachbarn darüber." Den Alltag draußen lassen, an nichts denken, das ist schwer. "Ich hatte vorher Stress mit meiner Freundin", sagt ein junger Mann mit Pferdeschwanz, "das lässt mich nicht los." Eine junge Frau, die schon im zweiten Semester dabei ist, sagt: "Ich bin mit so vielen Dingen im Kopf beschäftigt, wenn ich hierher radle. Wenn ich versuche, das zu bekämpfen, wird es nur noch schlimmer. Aber seit ich meditiere, kann ich besser loslassen." "Ich werde toleranter", sagt einer, "mit mir selber und mit anderen."

Andreas de Bruin berichtet von Studien aus der Neurowissenschaft, die belegten, dass regelmäßiges Meditieren bestimmte Hirnregionen aktiviere: Die Probanden würden ruhiger, konzentrierter, empathiefähiger. "Gerade in pädagogischen und sozialen Berufen kann das sehr viel helfen", sagt de Bruin. "Und das Schöne ist: Man kann Achtsamkeitsübungen relativ leicht in den Alltag oder Unterricht integrieren." Achtsamkeitsübungen sind sozusagen eine Vorstufe zur Meditation, sie sollen die Eigen- und die Fremdwahrnehmung steigern.

Melanie Lemppenau und Anna Schmelzer können das bestätigen. Für ihre Bachelorarbeit im Bereich Soziale Arbeit haben die Studentinnen mit Kindern in zwei Übertrittsklassen einer Pasinger Grundschule Achtsamkeit geübt und die Erfahrungen dokumentiert. "Die Fantasiereise hat ihnen besonders gut gefallen", erzählen sie. Das beginnt ungefähr so: "Stell dir vor, du stehst auf einer Wiese... Du siehst eine leuchtend rote Blume... Rieche daran..." Die Kinder fantasieren sich unter Anleitung in so ein Bild hinein und rufen Empfindungen wach. "Es sind Minuten, in denen sie ganz bei sich sind", stellen die Studentinnen fest. Weit weg vom Schulalltag.

Meditation wirkt und wird längst nicht mehr belächelt

Mehrere Wochen besuchten die Studentinnen immer wieder den Unterricht und regten mit verschiedenen kleinen Übungen die Vorstellungskraft und Sinneswahrnehmung der Kinder an. Die fanden es toll, sagten, es helfe ihnen gegen den Druck durch Eltern, Hausaufgaben, Freizeitstress. Und die Lehrerinnen bemerkten, dass sich das Klassenklima besserte.

De Bruin zeigt seinen Studenten an diesem Nachmittag noch Filmsequenzen aus den USA, wo solche Projekte schon seit Jahren in vielen Städten laufen. In einer Highschool in Baltimore wird jeden Morgen meditiert. "Seither hat sich die Situation an unserer Schule komplett verändert", erzählt die Schulleiterin im Film. Die Lehrer wollten nicht mehr darauf verzichten. Denn die Kinder seien nicht nur konzentrierter, sie hätten auch gelernt, über Gefühle zu sprechen, anstatt zuzuschlagen, sie würden mehr Dankbarkeit und Mitgefühl zeigen. Der Erfolg war so überzeugend, dass etliche Schulen und Kindergärten in Baltimore das Konzept übernommen haben.

"Meditation wirkt. Und sie wird längst nicht mehr belächelt", sagt de Bruin. Vom Kindergarten bis zur Hochschule, in der Lehrer- oder Erwachsenenbildung, in Gefängnissen und der Jugendhilfe - de Bruin sieht viele Möglichkeiten, um mit Meditation und Achtsamkeit das Miteinander friedlicher zu gestalteten.

Seit 25 Jahren meditiert der Holländer selbst: "Zweimal täglich zwanzig Minuten und zwei- bis dreimal die Woche zwei Stunden am Abend." Es ist zum Fokus seines Lebens geworden. Bis er diesen Fokus gefunden hatte, war es ein langer Weg. Aufgewachsen in der Maler-Stadt Delft, hat er zunächst technische Betriebswirtschaft studiert, in der Delfter Porzellanfabrik und in einer Flugzeugfabrik gearbeitet. Er hat dann angefangen, Psychologie zu studieren, wechselte nach München an die LMU, nahm Ethnologie und Musikpädagogik dazu und wurde 2003 promoviert.

Nebenbei hat er als Bademeister und im Gewächshaus gejobbt und Gitarre in einer Band gespielt. Zehn Jahre lang hat er mit verhaltensauffälligen Jugendlichen gearbeitet. "Ich bin immer gerne in schwierige Felder gegangen", sagt er mit seinem kehligen Akzent, "man findet dort oft eine große Ehrlichkeit." Noch in Holland, an der Uni in Leiden, hatte ihn eines Tages ein Kommilitone zu einer Meditation mitgenommen. "Und das hat mich gleich gepackt: Die Ruhe und das Gefühl, geborgen zu sein."

Mehr als tausend Münchner Studenten hatten bisher bei ihm Gelegenheit, dieses Gefühl selbst zu erfahren. Sie bekommen Credit-Punkte und Noten fürs Meditieren. Anwesenheit und Mitarbeit zählen und das Meditationstagebuch, das sie - auch zu Hause - führen. Am Ende sollen sie reflektieren, wie sie Meditation in ihrem späteren Berufsfeld einsetzen können.

De Bruin stellt sein Projekt auf Tagungen und an Hochschulen im In- und Ausland vor. Er wirkt umtriebig, spricht schnell. Aber er will nichts erzwingen, sagt der Holländer, "das wächst von ganz allein, Schritt für Schritt".

Im Seminarraum in Pasing ist es jetzt wieder ganz still. Es gibt noch eine Abschlussmeditation, bevor alle wieder in den Alltag entschwinden. Sitzen und atmen. Die unruhige Welt noch für ein paar Minuten draußen lassen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: