Süddeutsche Zeitung

Geschichtsforschung:"O gable lau beim Bleck, dem Überbeuter!"

Der aus Nürnberg stammende Harvard-Professor Martin Puchner hat ein Buch über das Rotwelsch, die Sprache der Vagabunden, geschrieben. Dabei stieß er auf ein dunkles Familiengeheimnis.

Von Jutta Czeguhn

Wer in den frühen Siebzigerjahren Kind war, mag sich nebelhaft an Gestalten erinnern, Scherenschleifer, die stoisch in heißen Sommern durch die Siedlung zogen. Misstrauisch überließen ihnen die Hausfrauen ihre Messer und verhandelten bis zur Unfreundlichkeit hart über den Preis. Dann waren sie wieder verschwunden, die rätselhaften Fremden. "Stupfler!", spotteten die Mütter verächtlich. Erst viel später sollte man erfahren, was sie damit meinten: Igelfänger, Igelfresser.

Martin Puchner, Jahrgang 1969, hat deutlichere Erinnerungen an jene mysteriösen Männer. Ihm ist sogar noch ihr unverständliches Gerede im Ohr, wenn sie damals, was seltsamer Weise oft geschah, an der Tür des Nürnberger Reihenhauses läuteten und Mutter Puchner ihnen Wasser und belegte Brote nach draußen brachte. Sein Vater fand freundliche, fast poetische Worte für die Gäste: "Sie sind Landfahrer, auf der Flucht nach nirgendwo." Und sein Onkel Günter schürte die Neugierde des Jungen erst recht, als er ihn auf das Zeichen hinwies, ein eingekreistes Kreuz, das jemand in den Grundstein des Puchner-Hauses geritzt hatte. Es verriet den Reisenden, dass sie hier etwas zu essen bekamen. Der Onkel konnte diese sogenannten Zinken der Fahrenden dechiffrieren. Ihre Geheimsprache, das Rotwelsch. Für Martin Puchner wird es zur "Obsession" - und später zum Schlüssel zu einem dunklen Familiengeheimnis.

In weiten Teilen liest es sich fesselnd wie ein Krimi, Puchners im vergangenen Herbst erschienenes Buch "Die Sprache der Vagabunden", in dem er der Geschichte des Rotwelsch wie ein Detektiv folgt und unterwegs - in einem sehr persönlichen, schmerzhaften Prozess - auf die Verstrickungen seines Großvaters mit dem NS-Regime stößt. Geschickt lässt er das Buch oszillieren zwischen Familienporträt und soziokultureller Sprachforschung. Die Spurensuche beginnt Mitte der Neunzigerjahre, fast harrypotterhaft, aus einer Laune heraus. Martin Puchner ist Literaturwissenschaftler mit Interesse für Sprachphilosophie. Nach dem Studium in Konstanz, Bologna und Kalifornien hat er einen Platz in einem Doktorandenprogramm in Harvard ergattert. Etwas gelangweilt sitzt er dort eines Tages in der berühmten Widener Library, einer Kathedrale weltweiten Wissens mit Abermillionen von Bänden. Vorwitzig wie ein Zauberlehrling will Puchner die alte Bücherburg herausfordern: Wird er hier auch Schriften seines Onkels Günter, eines Literaten, finden? Oder gar seines Großvaters Karl, der Namensforscher und Direktor des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München war? Und wirklich, beide stehen im Katalog. Um zu ihren Werken zu gelangen, muss Martin Puchner hinabfahren in den Keller der Bibliothek, und von dort noch einmal ein Stockwerk nach ganz unten, quasi in die Krypta der Widener Library. Es wird für ihn ein Abstieg zum moralischen Tiefpunkt seiner Familie.

Die Hetzschriften des Großvaters

Was Puchner an diesem stillen, seltsamen Ort dann entdeckt, schockiert, befremdet und beschämt ihn zutiefst. Vor ihm liegt ein Artikel seines Großvaters, "Familiennamen als Rassemerkmal" aus dem Jahr 1934, in dem Karl Puchner mit triefendem Hass gegen die Juden hetzt und in seinem wirren, antisemitischen Furor auch das Rotwelsch verdammt. Nicht von ungefähr verwende diese "Gaunersprache" hebräische und jiddische Wörter, schreibt der Opa und konstruiert einen Zusammenhang zwischen Sprache, Rasse und Kriminalität. Als sein Enkel dies alles nun knapp 60 Jahre später liest, ist es ihm, als krache das Fundament seiner Familienbiografie in sich zusammen.

Sein Vater kommt ihn in Cambridge besuchen, Martin Puchner fällt es schwer, ihn mit den Hetzschriften des Opas zu konfrontieren. Nach anfänglichen Zögern berichtet ihm der Vater von einer Begebenheit in den Sechzigerjahren: Auf einem alten Familienfoto entdeckt sein Bruder Günter ein Hakenkreuz am Revers ihres Vaters. Die Brüder stellen den Alten zur Rede. Doch dann passiert: nichts. Der Mantel des Schweigens legt sich wieder über diese "Angelegenheit". Martin Puchner sollte nicht mehr dazu kommen, seinen Vater näher zur Nazi-Vergangenheit des Großvaters und zur geheimnisvollen Verbindung der Familie mit dem Rotwelschen zu befragen. Nicht lange nach dem Besuch in den USA stirbt dieser bei einem Segelunfall.

Und auch Onkel Günter kann nicht mehr helfen, das Rätsel zu lösen, er ist zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre tot. Doch hat er dem Neffen auf seinem Münchner Dachboden einen Schatz hinterlassen, sein ausuferndes Rotwelsch-Archiv. Die Sammlung eines offensichtlich obsessiven Forschers, der sich die alte Geheimsprache nicht nur angeeignet hatte und Bücher über sie schrieb, sondern ihr in einem geradezu kühnen Unterfangen Anerkennung verschaffen wollte: Günter Puchner hatte damit begonnen, Meisterwerke der Weltliteratur, Goethe, Shakespeare, ins Rotwelsch zu übertragen. Die Balkon-Szene aus "Romeo und Julia" etwa: "Hippiger Romeo! ... O gable lau beim Bleck, dem Überbeuter!" ("Lieber Romeo! ... O schwöre nicht beim Mond, dem Wandelbaren!")

Kannte Günter Puchner die Hetzschriften seines Vaters? Wollte er sich an ihm rächen, indem er sich das Rotwelsche einverleibte, um so Unrecht wieder gut zu machen an seinen Sprechern, die unter den Nazis als "asoziales Gesindel" verfolgt wurden? Gespannt folgt man nun Martin Puchner bei seinem mehr als zwei Jahrzehnte dauernden Mühen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Die Sammlung des Onkels gelangte nach Amerika, das Martin Puchner zur neuen Heimat wurde. Heute ist er Harvard-Professor, seit 2007 hat er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Vielleicht ist es diese Distanz, die das Buch erst möglich gemacht hat. Denn Puchner recherchiert nicht mit angezogener Handbremse, schonungslos berichtet er etwa von den Lebensproblemen seines toten Vaters. Und doch scheint dies auch wie eine letzte verständnisvolle Umarmung: Er hat das Buch dem Vater gewidmet.

Großvater Karl hingegen wird ihm zum Fremden, im Münchner Hauptstaatsarchiv händigt man Martin Puchner bei einem seiner Besuche dessen Personalakte aus. Obwohl auf Vieles gefasst, trifft ihn wieder unvorbereitet, was er dort lesen muss: Der Großvater war schon 1930 in die NSDAP eingetreten und von 1933 an auch Mitglied der SA. All das, so bekommt der Enkel den Eindruck, hat nach dem Krieg einer hohen Beamtenkarriere und Honorarprofessur nicht im Wege gestanden. Karl Puchner ist - wie so viele - einfach zu seiner Familie zurückgekehrt und zu seinem alten Spezialgebiet, der Namensforschung.

Der Hashtag warnt vor Polizisten

In Onkel Günters Archiv, und nicht nur dort, stößt Martin Puchner auf viele Brüder im Geiste des Großvaters. Menschen ohne festen Wohnsitz scheinen sich dieser Rotwelsch-Sprache, notgedrungen, schon früh bedient zu haben, erste Quellen verweisen ins frühe Mittelalter. Gerichtsakten warnen vor den Nichtsesshaften, Glossare versuchen, der Sprache auf die Schliche zu kommen, das bekannteste, das "Liber vagatorum" von 1518, wird später von Martin Luther neu herausgegeben. Wie Karl Puchner war der Mönch überzeugt, dass diese unverständliche (welsche) Sprache der vagabundierenden Bettler (rot) von den Juden käme und man sich vor ihr hüten müsste. Weshalb Luther Wörter-Listen der schändlichen Sprache wie Steckbriefe herausbrachte. Eine Methode, die Martin Puchner in seinem Buch lustvoll parodiert, indem er seinen Lesern jeweils zum Ende eines Kapitels eine kleine Rotwelsch-Stunde gibt: mit Worten wie "einen Hasen machen" (entfliehen), "Zuckerbüchse" (Zuchthaus), "Moos" (Geld). Oder mit Zinken, etwa dem Raute-Zeichen, das wir heute als Hashtag kennen, und das die Fahrenden vor Polizisten warnte.

Auf vielen Haupt- und Seitenwegen, die ihn auch zu Franz Kafka, zu Esperanto, selbst zu amerikanischen TV-Serien führen, eröffnet sich Martin Puchner eine Sprache, die keine eigene Grammatik kennt, und die Wörter aus vielen mitteleuropäischen Dialekten, dem Deutschen, dem Tschechischen, dem Jiddischen, Hebräischen oder dem Romanes "recycelt" und voller Witz verdreht. War sie doch niemands Muttersprache, sondern erlerntes, hochpraktisches Verständigungswerkzeug innerhalb eines Milieus. Außenstehenden sollte sie verschlossen bleiben, weshalb jene, die sie den Behörden preisgaben, als Verräter verachtet wurden. Und Martin Puchner fragt sich, sind er und Onkel Günter also die Verräter, vor denen die Rotwelschen mit dem Zinken-Symbol eines Hahns warnten?

Erst der Kontakt zu einer Gruppe Fahrender in der Schweiz, die heute noch Jenisch, eine Form des Rotwelschen, sprechen, führt Martin Puchner zum vorläufigen Ende seiner Reise. Ihm wird die Resilienz dieser Sprache bewusst, der auch Verfolgung nichts anhaben konnte. Er begreift aber auch, dass die Versuche seines Onkels, Rotwelsch in der Weltliteratur zu verheimaten, zwar gut gemeint, aber im Grunde anmaßend waren. Und er hinterfragt nun sein eigenes Motiv, das Buch als eine Art Wiedergutmachung am Rotwelschen und ihren Sprechern zu schreiben. War dies nur eine Story, die er sich selbst zurecht gelegt hatte, um hinter das eigene Familien-Skript zu kommen?

Und doch ist sie nicht zu Ende erzählt, die Geschichte von Martin Puchner und dem Rotwelschen. Es scheint, als wolle sich das Buch weiterschreiben. Der Wissenschaftler hat sich das nächste akademische Jahr in Harvard freigenommen und wird von kommenden September an neun Monate in München sein. Wie er via Mail aus New York verrät, hat er sich viel vorgenommen für seinen Aufenthalt in Bayern. So will er Schillingsfürst in Mittelfranken besuchen, wo die "Stupfler" herkamen, wo es heute noch Menschen gibt, die Jenisch sprechen. Zudem hat er Kontakt zu einer Gruppe von Linguisten an der Uni Augsburg, die zu deutschsprachigen Dialekten forscht. "Die Recherchen zu dem Buch haben das Thema für mich nicht abgeschlossen, sondern im Gegenteil viele Türen aufgetan."

"Die Sprache der Vagabunden - Eine Geschichte des Rotwelsch und das Geheimnis meiner Familie", Martin Puchner, Siedler Verlag, München 2021.

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