Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: "Platz da! Kreativquartiere in Bayern":Mit Paukern und Trompeten

Sandra Schütz und Johannes Maria Haslinger wurde es zu eng in München. Da entdeckten sie das Rote Schulhaus in Rinchnach im Bayerischen Wald und öffneten es mit einem Verein zum Sehnsuchtsort für Kreative.

Von Michael Zirnstein

Eine Schulbank ist eine Projektionsfläche. Für Sehnsüchte und Ängste, für Liebe und Zorn, für Tiefschürfendes und Stinkbanales. Johannes Maria Haslinger kam auf den Schlag in den Besitz von 40 solcher alten Schreibtische. Er ist Fotograf, war lange Kunstdokumentar der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Also hat er die Bänke abgelichtet, und die Bilder ein wenig vergrößert in Leuchtkästen verwandelt und aufrecht an die Wände gestellt. "Mama" ist da mit einem Herz drumherum in eine rotbraune Oberfläche geritzt. Und "John Travolta". Es sind Zeugnisse ihrer Zeit. Mehrere Schüler gaben sich viel Mühe mit Hakenkreuzen, offenbar lange nach dem Krieg. Wohl nicht Ausdruck rechtsradikaler Gesinnung, sondern Symptom pubertärer Aufsässigkeit, versucht Haslinger zu verstehen. Was er sicher erkannt hat: Einige Platten waren trotz Gebrauchs nahezu unversehrt, andere völlig verkritzelkratzt. "Wenn da mal einer angefangen hat, sind alle Dämme gebrochen."

So ist das mit vielem. Ganz besonders mit dem Gebäude, in dem Haslinger und seine Frau Sandra Schütz die Bänke gefunden haben: das Rote Schulhaus in Rinchnach. Wie Howard Carter beim ersten Blick in Tutanchamuns Grab müssen sie sich gefühlt haben, als sie diese von der Gemeinde Rinchnach zum Festpreis von 89 000 Euro zum Kauf angebotene, von oben bis unten zugestellte, auf einem kleinen Hügel am Ortseingang thronende Immobilie 2017 zum ersten Mal besichtigten: "Ich sehe wunderbare Dinge." Als wären die Schüler nicht schon 2010, sondern gerade eben nach der Pausenglocke gegangen. Es standen noch Becher mit Pinseln drin herum. Toll.

Da waren sie längst verliebt in die einstige Mädchenschule von 1888. 2017 genoss das Münchner Paar gerade eine Auszeit auf dem Zeltplatz Delfini in Griechenland. Ab und an kamen Makler-Angebote aus der Heimat, denn sie suchten was Festes, gerne Ungewöhnliches zum Herrichten in München. Es gab natürlich nichts Gescheites. Frust. Dann dieser Backsteinbau in einem der Immobilien-Newsletter. Zauberhaft. Steht aber wohl irgendwo in Ostdeutschland, wie der aussieht. Aber nein: Rinchnach. Sichtziegel, höchst ungewöhnlich für diese Gegend. Diese kannten sie, weil sie beide im bayerischen Wald aufgewachsen waren.

Dennoch war das Ganze eine "Wackelpartie". Für die "Klousterer", wie die Rinchnacher sich ob ihres Klosters von 1011 selbst nennen, waren die beiden Auswärtige. Und sie wiederum wackelten noch in der Vorstellung, die große Stadt zu verlassen, mit ihren sicheren Arbeitsstellen (Sandra Schütz forschte als Sprachheilpädagogin am Jugendinstitut), den Freunden und der Kulturszene. In der war Haslinger selbst ein freidrehendes Unikum: mit seiner Band Zitronenpüppies beim Indie-Label Trikont, eigenen Ausstellungen, und Kuriosem wie seinem Album mit Field Recordings aus Kathmandu. Ob man mit derlei bei den Waidlern an- und über die Runden käme?

Doch wahre Liebe kennt keine Bedenken, nicht mal eine sich anbahnende Fernbeziehung zu einem Gebäude, alles würde sich lösen lassen. Sie bewarben sich, planten ihr Leben um und stellten ein Konzept auf, das "das ganze Dorf mitdenken" sollte. Dagegen hatten die anderen Bewerber keine Chance, die zum Beispiel Ferienwohnungen einbauen wollten. Schütz und Haslinger wollten kein Geschäft machen, sie wollten im oberen Geschoss wohnen, das untere für alle wieder zugänglich machen. Und damit wird das Rote Schulhaus vom privaten Traumhaus zum öffentlichen Kulturraum. Und zum Sommerfrische-Sehnsuchtsort anderer Kreativer.

Beim gemeinsamen Tocotronic-Konzertbesuch in München erzählte Haslinger seinem alten Freund Herrmann Wellner, mit dem er ganz früher in einer Postpunk-Band gespielt hatte, davon. "Der bekam als Volkskundler gleich große Augen." Heute ist Wellner Vorsitzender des gemeinnützigen "Vereins Rotes Schulhaus". Satzungsziel: Kunst, Kultur und Wissenschaft fördern; also Ausstellungen, Kulturveranstaltungen und Forschungsvorhaben realisieren und finanzielle Mittel dafür aufbringen. Ums Geld kümmerte sich dann vor allem Sandra Schütz. Um die eigene wachsende Familie zu ernähren, nahm sie eine Sozialforschungs-Professur in Regensburg an; und um das Schulhaus zu renovieren, tat sie Töpfe von Landkreis, Bezirk, Bund, Denkmalschutz und Städtebauförderung auf. Haslinger wiederum wurde freischaffend als Fotograf und tauchte in eine zweieinhalbjährige Wolke aus Baustaub ein: Putz, Fenster, Heizung, Brandschutz und Stromleitungen mussten neu gemacht, Fischgrät- und Karo-Fließen-Böden und Holztreppe erhalten werden.

Derweil ließen sie sich von der Landesstelle für Nichtstaatliche Museen beraten. Dort hieß es: Ihr habt doch so viel Bestand, lasst euch doch als Museum eintragen. "Wow, wir sind ein Museum", rief Familie Haslinger-Schütz aus, als der Bescheid kam, "cool". Dabei wollen sie eigentlich kein Museum sein. Im herkömmlichen Sinn. "Bieder" fänden sie es, einfach Bänke, Stühle, Rohrstock, Ranzen und Tafeldreieck auszustellen und gelegentlich abzustauben. Das müsse man weiterspinnen. Im Wort Museum steckt die Muse drin, eine Nymphe, die Menschen küsst, die kreativ sind, das passt schon eher zu ihnen und ihrer herzlich-offenen Lebensart.

Am Eröffnungswochenende staunten vor allem die Rinchnacher aller Generationen nicht schlecht, was die neuen Schuldirektoren und ihre Vereinsfreunde aus ihren alten Erinnerungen in der Ausstellung "Transformationsprozesse" gezaubert hatten: Eine Theke mit Leckereien wie damals beim Tante-Emma-Laden der "Süß Rosa" gegenüber, wo man vor der Schule Schokosemmeln kaufte, war sofort belagert von Kindern, die dient zudem als Museumsshop für den ersten Katalog. An interaktiven Bildschirmen kann man ehemaligen Schülern zuhören, wie das damals war, mit 64 anderen in einem Raum zu lernen; an den Bank-Leuchtkästen kann man vielleicht eigene Kritzeleien zur Kunst erhoben, entdecken oder in einer Installation, einem Malblätter-Tornado vom Boden bis zur Decke, das eigene Werk aus dem Kunstunterricht.

Von den Siebzigern an leistete sich Rinchnach nämlich den Luxus, das Rote Schulhaus allein für Werken, Zeichnen und Malen zu nutzen. Dazu kam Ronald Jakel aus München hierher. Der Rektor sagt zu ihm: Sie können hier machen, was sie wollen! Hier hatte er alle Freiheiten, und die Kinder bei ihm. Sie malten an der Waschhauswand Picassos Guernica nach, in Bunt. Sie töpferten Figuren für die Kirchenkrippe (Punker, UN-Soldaten). Sie stellten fünf Meter hohe hölzerne Wächterfiguren in Rinchnach auf und einen Drei-Meter-Gorilla (der leider zerfiel, als Haslinger ihn konservieren wollte). Jakel hat dem Verein den Acker vorbereitet. "Die haben hier alle Zugang zu Kunst und Kultur", sagt Haslinger.

Gleichwohl wollte er sich auch über das örtliche Brauchtum integrieren. Berühmt ist Rinchnach für das Wolfauslassen. Da läuten jedes Jahr hundert Burschen riesige Schellen. "Ein Monster-Event, da haut's di aus, das schnupft jede Kunstaustellung!", schwärmt Haslinger, "da merkst du, dass dein Herz vibriert." Als Musiker wollte er sich beim Goaßlschnalzen dabei einbringen. Das endete mit einem (seinem) blutigen Auge und dem spöttelnden Trost einiger Mädchen, die die Peitsche locker knallen ließen.

Aber sie sind eh angekommen. "Die Erwartungen wurden schlichtweg übertroffen, die Ausstellung trifft bei den Klousterern in Schwarze", schwärmt Simone Hinz, Bürgermeisterin für 3057 Einwohner. Sie freue sich sehr, dass dieses besondere "Museum" (sie benutzt bewusst im Sinne der Erfinder die Gänsefüßchen) "ausgerechnet in Rinchnach steht, dass wir derartig kreative Köpfe im Ort haben". Die Gemeinde hat sich am Eröffnungswochenende im Juli gleich mit dem Bürgerzentrum im Weißen Schulhaus (es gibt noch das Gelbe Schulhaus, das älteste) und dem Klosterkreuzgang angeschlossen und offiziell die "1. Rinchnacher Kulturtage" ausgerufen.

So soll es sein. Das Museum Rotes Schulhaus verstehen Haslinger und Schütz als einen Ort, der inspiriert, einen Ort des Austauschs. Gerade stellen sie in einem Event mit Bands und Traktoren zwölf Sitzbänke im Ort mit Blick auf ihr Schmuckkästchen auf. Bei der Eröffnung ließen sie Videokünstler die Backsteinfassade bestrahlen; die Band Joasinho aus München spielte ihren hypnotischen Ambient-Elektro-Rock; überhaupt kamen viele Menschen von überall hierher. Der Chef-Restaurator der Neuen Sammlung der Pinakothek der Moderne, Tim Bechthold, saß da am Tisch mit einer Bauernfamilie - "wenn wir diese Brücke schlagen, wird es lustig", sagt Haslinger. Einer sagte: Das sei wie Berlin im Wald. Wer's kennt, denkt dabei vielleicht ans feine Beacon Museum im Hudson-Tal vor New York.

Offen wollen sie sein, freuen sich über jeden, der auf ihrem Hof steht oder dem sie unten im Erdgeschoss begegnen; sie hatten schon in ihrer Münchner Dachgeschosswohnung einen Raum für Ausstellungen und kleine Konzerte. Jetzt haben sie mehr Raum - auch für Ideen. Jeder darf sich einbringen, Sandra Schütz denkt integrativ auch an Menschen mit Einschränkungen jedweder Art. Unter den nun schon 60 Vereinsmitgliedern sind Kulturwissenschaftler, Musiker, Autoren von überall her. Und Nachbarn. Für ein soziales Erzähl-Café im September suchen sie Geschichten von hier. Es muss aber nicht bei Rinchnach bleiben. Ein zweiter Sammlungsbestand sind Glasbilder einer Fotografin vom Pasing des 19. Jahrhunderts, die Haslinger noch dort im Keller gefunden hat. Er stöbert gerne, "Sperrmüll war bei uns daheim schöner als Weihnachten", sagt er.

Aus allem kann man etwas machen. "Aber unser Anspruch ist schon hoch", sagt Sandra Schütz: Lesungen wird es geben, Kino (erst mal kommt "King Kong und die weiße Frau"), Konzerte - Haslinger denkt an seine Freunde von The Notwist, die wiederum ihre Kumpels aus Japan Spirit Fest mitbringen. Sie sind schon Mitglied in einem internationalen Museumsnetzwerk, denken an Wanderausstellungen in Österreich und Tschechien. Die Publikation mit lesenswerten Aufsätzen und Interviews zur Eröffnung ist auch ganz bewusst Teil eins einer Reihe. Überhaupt muss es auch nicht immer Ausstellungen geben, da sind sie ganz frei, sie wollen Workshops machen und vielleicht "Artists in Residence" einladen, die im großen, hellen Raum im Erdgeschoss ein paar Wochen wohnen und sich kreativ ausleben könnten.

Ganz im Sinne des Lehrers Jakel. Der kam hierher, weil es ihm im Münchner Hasenbergl zu eng geworden war, die Kollegen ihm untersagten, mit farbiger Kreide an die Tafel zu schreiben. In Rinchnach, "da gab es Möglichkeiten!", sagte er seinen Nachnutzern. Auch der Familie Haslinger-Schütz, inzwischen mit Lotti und Pauline zu viert, wurde es zu eng in München für ihre Ideen. In Rinchnach blicken sie auf Dorfbäume, einen Kirchturm und grüne Hügel, das weitet den Blick. "Wir besitzen jetzt ein Schulhaus", sagen sie stolz, immer noch staunend, und eben gar nicht mauernd, "denn dieses Haus kann man gar nicht alleine besitzen."

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