Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: München erlesen:Leiden mit Lavagestein

Hallgrímur Helgasons skurriler Roman "Seekrank in München"

Von Antje Weber

Es ist eine seltsame Gestalt, die an einem Spätsommertag 1981 am Münchner Bahnhof eintrifft. Ein junger Isländer plagt sich dort mit zwei Koffern ab, schwitzend in einem dicken Wintermantel - nicht gerade das perfekte Kleidungsstück bei südlichen Temperaturen, und dazu aus einem "derart steifen Wollstoff, dass er sich in etwa so bequem wie ein Fußabtreter trug".

Den steifen Mantel wird der Isländer namens Jung, der sich mit seinen Anfang zwanzig eingeschüchtert durch eine fremde Welt bewegt, in den nächsten Monaten noch häufig tragen. Er ist dem Unbehausten, der von einem Studentenzimmer zum nächsten umzieht, eine Art Schutzpanzer gegen die Zumutungen des Lebens. Denn auch wenn Jung, der wenig mehr als seine Inselheimat im Nordatlantik kennt, jeder Tag wie ein "Schrank voll hochglanzpolierter Wunder" erscheint, ist er den Wundern Münchens gegenüber nicht ganz so aufgeschlossen. Eigentlich wollte er ja nach West-Berlin, da jedoch überall die Fristen abgelaufen waren, blieb nur die Kunstakademie in München übrig. Schnell geht dem jungen Mann auf, dass er hier "in die Hauptstadt all dessen gekommen war, was er am meisten verabscheute. Oder sollte er besser sagen, in die Hauptstadt all dessen, was er nicht verstand?"

Der isländische Schriftsteller und Künstler Hallgrimur Helgason hat sich mit "Seekrank in München" einen Albdruck von der Seele geschrieben. "Das war wahrscheinlich überhaupt die schwierigste Zeit in meinem Leben", erzählte er 2015 anlässlich der Buchpräsentation in einem Literaturhaus-Magazin. "Ich wusste einfach nicht, wer ich war." Die Erinnerung an diese düstere Phase hatte den Autor vier Jahre zuvor bei der Münchner Buchvorstellung seines Romans "Eine Frau bei 1000 Grad" wieder eingeholt; alles brach hervor, als er abends im Hotel nach der Lesung vor begeistertem Publikum nicht einschlafen konnte - München war doch eigentlich immer seine "city of pain" gewesen? Und so stellte sich Helgason, Jahrgang 1959, schreibend seiner Vergangenheit.

Man versetze sich also mit ihm auf den Max-Joseph-Platz, zum Beispiel. Da steht er nun, ein "schmaler, blasierter" Jüngling, "das blonde Haar streng zurückgekämmt wie ein grimmig blickender Hitlerjunge, der vierzig Jahre zu spät zum Appell antrat". Er mustert die Gesichter der "festlich herausgeputzt Entgegenkommenden in dunkelgrünen Jankern mit Goldknöpfen, Windstille im Haar und Programmheft in der Hand. Was für Schafe!" Die Einheimischen kommen aus der Oper, "einem großen Steinkasten", der samt Säulenportikus "alles gab, um eher wie ein strenggläubiger griechischer Tempel auszusehen". Jung ist verzweifelt. "Warum eigentlich diese ewige Beweihräucherung der Vergangenheit? Sie schienen ihre eigene Gegenwart, ihr eigenes Leben zu hassen."

Der blasierte Jüngling hasst seine eigene Münchner Gegenwart des Jahres 1981 ebenso sehr. Der U-Bahnhof Marienplatz? Deprimiert fühlt sich Jung, als würde er "in einer Brotzeitdose aus orangerotem Plastik stecken". Die Fußgängerzone? Wirkt "kribbelnd vor kapitalistischer Kauflust und apathisch vor Nachkriegseinfallslosigkeit, bleischwere Häuser wie Felswände zu beiden Seiten". Das Lebensgefühl überhaupt? "Die ganze Stadt schien nirgendwo hinzuwollen, außer in die nächste Bierwirtschaft. Schritte hallten zwischen mittelalterlichen Steinmauern wider. Hier war alles fest gefügt und festgefahren, unveränderlich und drückend geschichtsträchtig."

Dem jungen Mann bereitet das alles Bauchschmerzen, so sehr, dass er auf Schritt und Tritt eine Art vulkanischer Lava auskotzt, die er in einem Glas mit sich herumträgt, versteckt unter dem Wintermantel. Wer das bei aller Skurrilität doch etwas drastisch findet, sollte sich klar machen, welche Triebkräfte laut Helgason die isländische Literatur speisen: Am wichtigsten sei es, eine "gute Geschichte" zu erzählen, sagt er. Eine solche Geschichte müsse nicht unbedingt wahr sein: "Wir Isländer machen Geschichten gern ein bisschen unterhaltsamer, verrückter, sarkastischer, selbst wenn es sich um etwas Trauriges handelt."

Sein autobiografischer Coming-of-Age-Roman hat von allem etwas. Er hat sehr komische Momente - die zum Beispiel an der Kunstakademie spielen, wo sich Jung neben einer schweigsamen Haarpinslerin als wilder Maler versuchen muss, obwohl er eigentlich nur Marcel Duchamp als Künstler gelten lässt. Er hat auch tieftraurige Momente, die mit traumatisierenden sexuellen Erfahrungen zu tun haben (in Italien, ausnahmsweise), mit einem Gefängnis-Aufenthalt (in Ost-Berlin, ausnahmsweise) und dem Tod des Großvaters - in Island, und mit dieser Rückkehr auf die Insel sind die Wanderjahre des jungen Mannes fürs Erste beendet. Der Held ist gereift, er entdeckt das Schreiben als neue Ausdrucksform. Und auch wenn er nach wie vor seinen Mantel trägt, wirkt der nun "leichter als früher".

Hallgrímur Helgason: Seekrank in München, Tropen 2015, 19,95 Euro

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Quelle:
SZ vom 14.07.2020/van
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