Hat Mick Jagger, der stramm auf die 79 losstolzierende, hüftwackelnde Sir, etwas verlernt? Nicht seinen britischen Humor, schwarz serviert wie eine Tasse Earl Grey. "Gestern hatte ich ein Bier im Englischen Garten", sagt er auf Deutsch im Olympiastadion, als sei er nicht einer der letzten lebenden Rock-Titanen inmitten von etwa 70 000 Fans, sondern zu Besuch bei Freunden. Und genau so sahen ja die Stadtbummel-Fotos auch aus, die er am Tag vor diesem ersten von zwei Deutschlandkonzerten der "Sixty"-Tour der Rolling Stones auf Instagram geteilt hat: Mick entspannt am Friedensengel, Mick ahmt den Schritt des weißen Riesen an der Leopoldstraße nach.
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Und Mick sitzt im Biergarten, hebt (hier wechselte er in den Videomodus) eine Mass hoch, sagt irgendwas Kauderwelschiges und Prost und grinst verschmitzt.
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"Es war Bikini-Wetter", sagt er nun zum Publikum, "nicht viele Bikinis heute Abend!"
Spitzen-Ironie, denn ans Baden hatte vor dem 116. Konzert der Band in Deutschland (wie Jagger vorrechnet) niemand gedacht. Eine E-Mail ermahnte Kartenbesitzer, sich regenfest zu kleiden, denn "eine Schlechtwetterlage mit Starkregenfällen, Blitzen und Sturmböen" nähere sich München. Etwa um 14.30 Uhr riefen dann auch die Sicherheitskräfte den schon Wartenden durchs Megafon zu: Der Einlass müsse um eine Stunde auf 18 Uhr verschoben werden, der Konzertbeginn auf 20.45 Uhr.
Der Himmel ist dunkelgrau, zeitweise schüttet es. "Stehst du schon an oder stehst du noch unter", fragen sich Fans in der etwas unübersichtlichen Lage gegenseitig. Viele checken das Regenradar auf dem Handy und wiederholen die Durchhalteparole: "Da hinten wird's schon heller." Der Olympiaberg, auf dem bei solchen Großereignissen viele schon nachmittags picknicken, um später ein bisschen was aus dem Stadion sehen und hören zu können, ist verwaist.
Einige wenige wollen sich die Wartezeit am Theatron vertreiben. An der Bühne am Olympiasee sollen "Pacifico Boy" den zweiten Tag des Pfingsttheatron-Festivals eröffnen. Sänger Fedi Sanchez, Unikum der Münchner Szene, ist bedröppelt backstage unter die Plane geflüchtet. Auch er schwärmt von den Stones. 1990, mit 14, habe er sie zum ersten Mal im Konzert erlebt. "Ich dachte: Gut, dass ich die nochmal sehe, es wird das letzte Mal sein." Und jetzt soll er 150 Meter entfernt von seinen "musikalischen Eltern" auftreten, "Wahnsinn, ein großer Tag!"
Bilder vom Konzert in München:Jagger hat es nicht verlernt
Vor Zehntausenden Zuschauern spielen die Rolling Stones das erste Deutschland-Konzert ihrer Tour im Münchner Olympiastadion. Der Einlass muss wegen schlechten Wetters verschoben werden, dann bleibt es trocken. Die Bilder des Abends.
Christian Kiesler ist sich dessen noch nicht ganz sicher. Er hat das Programm fürs Theatron zusammengestellt, so wie in den zwei Corona-Jahren für die Sommerbühne drüben im Stadion. Dass er jetzt wieder hier die kleinere Bühne bespielt, findet er prima: "Gestern waren 3500 Leute da. Geil. Das ist meine Heimat." Und die Zusammenarbeit mit dem Olympiapark hat gefruchtet: Er darf heuer die Konzerte zu den European Championships und der Olympia-Jubiläumswoche gestalten. Dann fasst er in seine Jackentasche und holt ein gefaltetes Papier heraus: ein Ticket für die Stones.
Jemand von der Park-GmbH habe es ihm zugesteckt. Er weiß noch nicht, ob er nachher rüberschaut, erst mal muss er mit dem Team eine schwere Entscheidung treffen: Der zweite Theatron-Tag wird wegen des Regens abgesagt.
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An der "Lucky Dip"-Schlange neben der Abendkasse wollen ein paar Hundert Fans ihre "Glückstickets" abholen. Nur 66 Euro hätten sie nach einem Tipp aus dem Fan-Club gezahlt, sagt ein Mann aus Rosenheim, sie könnten ganz vorne sitzen oder weiter weg auf der Tribüne. "Egal, auf jeden Fall ein Schnäppchen." Nur stehen sie seit Stunden an, weil nur eine Person im Häuschen die Tickets gegen Vorlage des Ausweises ausgibt. "Katastrophe!", sagt der Rosenheimer.
Robin, ein junger Mann aus Düsseldorf, und Stefan, sein Vater, bleiben geduldig. Den ganzen Nachmittag. Sie sind weit vorne in der Schlange am Haupteingang, dicht hinter einer Frau, die schon seit neun Uhr morgens wartet. Sie haben Karten im hinteren Stehbereich, Kategorie "Silber", dort wollen sie ganz vor an die Absperrung. Da gibt man seine gute Warteposition nicht auf.
Rennen für die Pole-Position
Auch nicht, wenn man die Regenponchos im Hotel vergessen hat. "Ah, die ersten laufen schon drinnen", sagt Robin erleichtert. Gleich sollen auch hier die Schleusen aufgehen. "Sobald ihr rennt, machen wir hier wieder zu", mahnt ein Ordner via Megafon zur Gelassenheit. Die Neun-Uhr-Frau breitet die Arme aus in Titanic-Position und tippelt flink auf ihn zu.
Ein Mann steht noch mit dem Rücken zum Stadion, den Blick auf die nun verstärkt eintrudelnden Fans gerichtet, in der Hand eine Klarsichthülle wie ein Zeuge Jehova das Wachturm-Magazin. Darin zwei Karten und der Stadionplan. "Die sind ganz vorne", erklärt er einem interessierten Pärchen. Was die kosten sollen, fragen sie. "Ich bin momentan bei 750. Für beide", erklärt der Mann ruhig. Eigentlich haben sie 523 Euro gekostet, pro Stück. Die Suchenden verziehen verblüfft das Gesicht und gehen zum nächsten Händler.
"Ich bin kein professioneller Verkäufer", sagt der Freisinger. Er habe vier Karten gehabt. Eine hat er schon verkauft, die war für seinen Sohn, der konnte aber nicht mit. Die anderen beiden Tickets habe ihm "die beste Frau der Welt" geschenkt, sie habe nicht gewusst, dass er schon welche bestellt hatte.
"Ich habe ja noch zwei Stunden", sagt er und lächelt, "naja, bei dem Regen will halt niemand für so viel Geld in der Arena sitzen." Neben ihm hat das Pärchen zwei Tickets von einem Graumarktprofi ergattert: Statt 300 zahlen sie 200 Euro. Sie klatschen sich ab.
"Also, ob wir überhaupt heute ins Stadion kommen", bangt ein Paar aus Ulm. Sie hat sich ein Shirt mit dem legendären Zungen-Logo beim Merchandise-Stand gekauft. Passend zu ihrer Strumpfhose mit lauter kleinen Mündern drauf. "Die hätte jede Frau haben können, sagt sie, "die gab's beim Calzedonia".
Sie liebäugle noch mit dem Hoody für 80 Euro. Obwohl jetzt Bewegung in die Wartetraube kommt, zweifeln sie immer noch. "Wir haben eben gehört, dass das Konzert abgesagt wird."
Im Büro der Olympiapark GmbH klingelt am Nachmittag des ersten Stadionkonzertes nach der zweijährigen Pandemiepause ständig das Telefon. Auch Besitzer teurer Tickets für Sitzplätze in der unbedachten Arena rufen an, ob sie nicht doch einen Schirm mitbringen dürften. Keine Chance, erklärt Tobias Kohler, der Pressesprecher des Parks, "das ist eben das Risiko bei Open-Airs."
Das Unwetter teilt sich über dem Stadion
Dennoch gibt es Risiken, die zu groß sind: Hagel, Sturm, oder wenn ein Blitz in die regennasse Schüssel einschlage, erklärt Kohler. Deswegen habe die Parkleitung und der Veranstalter FKP Scorpio sich ständig mit dem Wetterdienst beraten - und die Leute zur eigenen Sicherheit erst einmal im Regen stehen lassen.
Die Gäste warteten besonnen. Dann ist klar: Das schlimme Unwetter zieht nördlich und südlich am Stadion vorbei. Die große Party kann starten. Bald nach der Ansage "Ladys and Gentlemen: The Rolling Stones" gibt es rosa Wölkchen am Himmel und einen goldenen Sonnenuntergang.
"Wir haben viel Spaß in München", sagt Jagger, und Zehntausende jubeln. No Satisfaction? Von wegen. You can't always get what you want? Hier irrt Mick Jagger, alle bekommen, was sie sich erträumt haben von diesem Abend.
"Oh, a storm is threatening my very life today, if I don't get some shelter, oh yeah I'm gonna fade away", singt der Frontmann unter dem gelb-blau bestrahlten Olympiaturm und zu Bildern rauchender Kriegsruinen, und erinnert daran, dass es Schlimmeres als ein paar Regenschauer gibt. "War, children, is just a shot away."
Es ist ein großer Moment der größten alten Rockband der Welt. Und davon gibt es einige. Das kühl-kraftvolle "Ghosttown" etwa ist es für Tobias Kohler. Und Gerhard Vates schwärmt vom zweiten "Energie-Teil" der Show. Im ersten - "seltsame Versionen, etwas schlagerhaft" - hätten sie wohl ihre Kräfte geschont, resümiert der langhaarige Sunnyboy nach dem Konzert auf der Ehrentribüne.
Vates kennt Mick, Keith & Co. Er hat damals in den Musicland Studios Giorgio Moroder und Reinhold Mack assistiert, auch als die Stones in München "tonnenweise" Material aufgenommen haben. "Ich hatte selber eine Band. Ich habe nie nach Autogrammen gefragt. Sie waren immer voll nett zu mir", erinnert er sich. Nett, das sind die Stones immer noch.
Oder wie hat Jagger eben gesagt: "München, I mog dei." Er hat nichts verlernt.