Patricia Quinn, 80, Pythonjacke, weiße Turnschuhe, klappt einen kleinen Schminkspiegel auf. Sie legt etwas Rot nach. Schließlich soll jeder sehen: Das sind die berühmtesten Lippen der Welt. Man kennt sie, sinnlich geöffnet vor schwarzem Hintergrund, von den Plakaten der „Rocky Horror Picture Show“. Oder aus dem Vorspann des Filmes, da bewegt die nordirische Schauspielerin ihren Mund synchron zum „Science Fiction Double Feature“-Gesang des Regisseurs Richard O’Brian: „Michael Rennie was ill / The day the Earth stood still ...“
Vor 50 Jahren begann der Dreh zu dem Film-Musical im viktorianischen Oatley Court Hotel an der Themse, hinter dessen spukig-feudaler Fassade schon Dracula- und Mumien-Filme gedreht worden waren. Hier konnten sie sich austoben, erinnert sich Quinn. Zuerst wollte sie gar nicht dabei sein. Sie spielte seit einem guten Jahr zuvor in der Erst-Besetzung im Theaterstück „The Rocky Horror Show“, das war im „Upstairs“ des Royal Court Theatres in London, dem Dachraum fürs Experimentelle. „Aber ein Stück über außerirdische Transsexuelle – das war selbst dort etwas Ungehöriges.“ Jeden Abend um 22 Uhr (vorher durfte nicht gespielt werden, um die Vorführungen im Saal darunter nicht zu stören) wartete sie versteckt unter einem Tuch, wenn die 60 Zuschauer an ihr vorbei zu ihren Stühlen gingen. Dann sprang sie hervor, verkleidet als die Süßigkeitenverkäuferein „Usherette“ und schmiss Konfetti aus ihrem Bauchladen – wie die ganze Show eine Hommage an das Horror-Movie-Kino der Fünfziger.
Die Usherette wurde in der Verfilmung nicht gebraucht; aber Rocky-Horror-Erfinder O’Brien bot Quinn die Rolle der rotschopfigen Schlossmagd Magenta an. „Interessiert mich nicht!“, habe sie gesagt. Als man ihr die fetzigen, sexy Kostüme zeigte, meinte sie: „Okay, ich mach’s.“ Und sie war mittendrin in der kultigsten Laser-Straps-Scharade der Kinogeschichte.
Man sollte die Wirkung dieses recht dünn-gestrickten, halbseidenen, billig zusammengezimmerten Sing-Sang-Films nicht unterschätzen: Travestie-, Burlesque- und Glamrock-Künstlern gab er Rollenbilder, der queeren Bewegung einiges an Rückenwind – und auch das ihm zugrunde liegende Theater-Musical machte eigentlich erst der Film berühmt. Eigentlich war der Film aus den US-Kinos verbannt worden, er durfte nur in kleinen Häusern wie dem Waverly Theater in Greenach Village, New York, nach Mitternacht gezeigt werden: Dort traf sich eine Fan-Schar, die Billig-Filme feierte und zur Party machte, sich verkleidete, in die Dialoge hineinrief und überhaupt alles zur Kindergeburtstagsparty erhob. Das steckte an, und so bekam die Horror-Show einen festen Platz in den Programmkinos.
So auch in den Münchner Museum-Lichtspielen. Seit 1977 läuft die Kult-Horror-Klamotte hier in der Originalfassung jeden Freitag und Samstag, an Halloween wird sie heuer zusätzlich viermal gegeben. Viele kommen in Strapsen kostümiert ins „Rocky-Kino“, kaufen Mitmachtütchen und wissen freilich genau, in welcher Szene sie Reis oder Klopapier schmeißen oder mit der Wasserpistole spritzen müssen. Ein frivoler Spaß!
Damit konnte Patricia Quinn erst einmal gar nichts anfangen, als der Film immer mehr Publikum in die immer größeren Theatersäle spülte, und mit ihnen diese ungehobelten Manieren. „Auf einmal redeten die Leute mit uns in der Vorstellung. Wir sagten: Halt den Mund, das hier ist Theater!“ Besonders sauer wurde sie, wenn die Gäste den Erzähler des Stückes in Gespräche verwickelten: „Die Show wurde länger und länger, aber ich wollte nach Hause.“ Dass das Publikum die „Rocky Horror Show“ liebt, wie Quinn findet, weil sie eigentlich nur eine gute Stunde lang ist, ist ja nur ein Teil der Wahrheit. Eigentlich feiert das Publikum das Stück, weil jeder darin mit einem kessen Spruch seinen kleinen Auftritt haben kann.
Und die gepiesakten Erzähler können glänzen, je schlagfertiger sie auf die „Buh“- und „Langweilig!“-Rufe reagieren – so wie seit elf Jahren Deutschlands Hollywood- („Eyes Wide Shut“) und Comedy-Gentleman („Schuh des Manitu“) Sky Dumont: „Dafür werden wir bezahlt“, sagt er, „es ist jedes Mal anders, jedes Mal ein großer Spaß. Als eine Frau mal rief: Geh heim! Antwortete ich: zu Dir oder zu mir?“ Auf der nun startenden neuen Deutschlandproduktion teilt sich Dumont die „große Ehre“ mit Ilka Bessin und Hugo Egon Balder (die Erzähler sind traditionell die Einzigen, die Deutsch sprechen auf der Bühne).
In der neuen Produktion will der englische Regisseur Sam Buntrock (dessen RHS-Inszenierungen schon mehr als eine Million Besucher gesehen haben) nicht den Klappkulissenklamauk wie am Londoner Westend, wo jüngst tatsächlich der einstige Teenie-Popstar Jason Donovan einen ordentlichen Sex-Alien Frank’n’Furter hinlegte. Buntrock will es filmischer, ja: wieder theaterhafter. Er will die emotionale Seite dieser „Coming of Age“-Geschichte erzählen, des aufblühenden Pärchens Brad Majors und Janet Weiss, aber auch seines Frank’n’Furters Oliver Saville, der in der Hauptfigur einfach einen verlorenen Fremden sieht, der zur Erde gekommen ist, weil er die romantischen Filme der Fünfziger liebt und hier eine ewige Party feiern will. „Don’t dream it, be it“, ist seine einzige Botschaft. „Es wird immer nicht unkomisch“, verspricht Buntrock, „aber es werden wirkliche Menschen mit Tiefe vorkommen.“
Patricia Quinn dürfte das gefallen. Vor 51 Jahren gab es nur einen Stuhl auf der Bühne, auf den der künstliche Mensch Rocky stieg um zu posieren. Man tanzte zu dritt den „Time Warp“, weil Richard O’Brien so eine Choreo in einem französischen Film gesehen hatte, erinnert sie sich, „aber das war noch nicht der Riesen-Hit damals.“ Eigentlich war alles nur die Songs und Theater. Für Patricia Quinn war es die beste aller Shows, die Reduktion aufs Wesentliche.
Rocky Horror Picture Show, Donnerstag, 31. Oktober, (16.15, 18.30, 20.45 und 23 Uhr, München, Museumslichtspiele, Lilienstraße 2; Rocky Horror Show, München, Deutsches Theater, 25. März bis 14. April; Tourstart: 29. Oktober, Berlin, Admiralspalast