Rheinland-Pfalz:Einfach pflücken und mitnehmen

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Rund um die alte Stadtburg Andernach wächst und gedeiht es prächtig, die Ruinen bieten ein gutes Mikroklima. (Foto: Stadtverwaltung Maurer)

Anfangs glaubten sie in Andernach an einen Witz: In den Blumenkübeln wuchsen keine Primeln mehr, sondern Möhren und Mangold. Dann gab es ein Tomatenfest - und alle waren stolz

Von Gianna Niewel

Wenn Menschen sich aus dem Beet vor dem Rathaus Johannisbeeren mitnehmen, freut Achim Hütten das. Wenn sie außerdem noch Fenchel und Sellerie pflücken, umso mehr.

Andernach liegt im Norden von Rheinland-Pfalz, so nördlich, dass man dem Oberbürgermeister (SPD) das Rheinische anhört. Am Telefon sagt er: "jemacht". Was sie hier jemacht haben: Vor elf Jahren haben sie in die Blumenkübel keine Primeln, Astern, Begonien mehr gepflanzt, sondern Möhren und Mangold. Sie haben Hochbeete in der Stadt aufgestellt. Und sie haben den Menschen gesagt, nehmt, was ihr wollt. Andernach ist seither eine essbare Stadt, "die erste in Deutschland".

2008 kam der Leiter des Sozialamts zu ihm, ein Mann, der sich in seiner Freizeit für Permakultur interessiert. Der fragte, ob es nicht eine gute Idee wäre, statt der Wechselbepflanzung etwas Essbares zu säen. Hütten fand: ja. Am 1. April 2010 erschien dann in der Regionalzeitung ein Text über die "essbare Stadt Andernach", und die Leute glaubten an einen Witz. Oder, wie Hütten sagt, "jetzt hat er sie net mehr alle". Aber schon im Herbst feierte die Stadt ein Tomatenfest mit 60 Sorten, alle hier gezüchtet. Die Menschen, sagt er, waren stolz.

Das Projekt begonnen hatten sie rund um die Stadtburg Andernach. Im 12. Jahrhundert gebaut, im 17. Jahrhundert im Pfälzischen Erbfolgekrieg zerstört, bieten die Ruinen ein gutes Mikroklima. In den Gräben sind die Setzlinge windgeschützt, in manchen Ecken haben die Stauden Schatten, an der Mauer entlang wachsen Bananen, wobei der Oberbürgermeister sagt, er wisse nicht, ob die jemals erntereif waren. Was dort aber gut wächst: Knackmandelbäume und Granatäpfel.

Mittlerweile stehe auch 18 Hochbeete in der Stadt, sie gehen davon aus, dass etwa 1,6 Hektar Grünfläche zur essbaren Stadt gehören, wobei der Oberbürgermeister gleich sagt, ein kleiner Teil davon sind Blühstreifen. Kosten: knapp 100 000 Euro für Pflege und Pflanzkosten, für Saat und Wasser. "Aber dat iss et uns wert". Es ist es ihnen auch wert, weil sich um Obst und Gemüse allen voran eine gemeinnützige Gesellschaft kümmert, die Langzeitarbeitslose beschäftigt.

Es ist also nicht nur ein ökologisches Projekt, sondern auch ein soziales. Und das läuft: Die Stadt ist Teil des "Edible Cities Network" der Europäischen Union, hier vernetzten sich Städte, die schon länger auch Obst und Gemüse anpflanzen. Berlin, Oslo, Rotterdam. Und eben Andernach, 30 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Gerade erheben sie Daten zur Frage, wie man das Saatgut von Zuckererbsen vermehren kann, Daten, mit denen dann Städte arbeiten können, die ebenfalls essbar werden wollen. Havanna in Kuba zum Beispiel.

Bürgermeister Achim Hütten, der von sich sagt, bis vor Kurzem habe er Rosmarin (immergrüne, verzweigte Sträucher, Blüten wie Kelche) von Oregano (krautige Pflanze, Wuchshöhe bis 70 Zentimeter) kaum unterscheiden können, erzählt jetzt, dass die Menschen am Anfang unsicher gewesen seien. Darf man das wirklich pflücken? Ist das für Familien, die wenig Geld haben? Aber das habe sich schnell herumgesprochen, mittlerweile wollten auch einzelne Stadtteile Beete für sich haben. Sie haben sogar einen alten Landwirtschaftswagen in die Stadt gezogen, dessen Seiten sie mit Plexiglas ersetzt haben, da können die Menschen nicht nur die Pflanzen, sondern auch die Wurzeln sehen. Die essbare Stadt wächst.

Wobei ihn, sagt Achim Hütten, eine Sache besonders freut: Es werde kaum Vandalismus betrieben, es reiße kaum jemand nachts heimlich Mangold aus oder verwüste Beete. Für Hütten ein Zeichen dafür, dass die Menschen Respekt vor dem Essen haben.

© SZ vom 05.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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