In München kursiert die liebevolle Verschwörungstheorie, der Österreicher Jürgen Wolfsgruber arbeite an dem Plan, die komplette Gastronomie der Stadt zu übernehmen. Hier mischt sich (neidischer) Spott mit Bewunderung, ist dieser Mythos doch der äußerst realen Tatsache geschuldet, dass Wolfsgruber zuletzt ein Restaurant nach dem anderen eröffnet hat und das – entgegen allen Gastrokrisen – mit Erfolg: Aus der Terrine, früher die kleine Schwester des Tantris, hat er das ebenfalls längst besternte Sparkling Bistro gemacht, nur ein paar Meter weiter in der Amalienpassage hat sich sein alltagstauglicheres Tschecherl schnell etabliert, und obwohl die Eröffnung des Südtirol-Lokals Das Obers im gediegenen Gern erst gute vier Monate zurückliegt, soll Wolfsgruber schon am nächsten Restaurant mit Östro-Konzept tüfteln, wie er das nennt.
Ein erstes Zwischenfazit lautet: Sollte München tatsächlich irgendwo österreichisiert werden müssen, dann wäre die Gastronomie nicht das schlechteste Ziel dafür. Denn obwohl die Restaurants alle verschieden sind, eint sie doch ein kluger kulinarischer Markenkern, der sofort zum Erfolgsrezept wurde: Es geht um transparente, gute Produktküche, alpenländisch geerdet, aber modern interpretiert; gehoben, aber noch gerade bezahlbar und ohne jeden falschen Schnörkel.
Dass der bisher Maxvorstadt-affine Szenegastronom sein Bistro für Südtiroler Herzensküche (am Herd steht Lukas Gietl) ausgerechnet in einer Villa an der feinen Ecke Gerner Straße/Tizianstraße eröffnet hat, ist plausibler, als es zunächst wirken mag. In der solventen Wohngegend nördlich des Nymphenburger Kanals ist Gastronomie rar, und das Konzept ging offenbar auf: Wer hier essen möchte, vor allem an Wochenenden, sollte zeitig reservieren.
Der kleine Gastraum ist gemütlich, die Tische sind eng gestellt, und die Geradlinigkeit des Küchenstils gilt auch für die Einrichtung. Holzbänke, lindgrüne und sandfarbene Wände, graue Linoleumplatten und erdfarbene Stuhlpolster – stylish, aber auch ruhig und klar den beiden Hauptattraktionen untergeordnet: dem antiken Terrazzo-Boden und dem Deckenfresko über der Weinbar. Draußen sitzt man, unter dem Grün der Gerner Straßenbäume und geschützt von einer Hecke, auf einer angenehm heimeligen Terrasse.

Der Service ist freundlich und auch bei vollem Haus aufmerksam. Gefallen hat uns die Wasser-Flatrate (fünf Euro pro Person) und das erfreuliche Angebot auch an offenen Weinen (wir hatten deutschen Riesling, österreichischen Weißburgunder und französischen Chenin blanc). Wobei es eine gute Idee wäre, Aperitivi, (wechselnde) Weine und die Preise dazu (bei uns am Ende knapp zehn Euro pro großzügig eingeschenktem Glas) irgendwo auszuweisen, damit man sich bei der Frage „Champagner, Cremant?“ zu Beginn weniger bedrängt fühlt.
Als Gast wählt man zwischen einem kleinen À-la-carte-Angebot und einem Überraschungsmenü, das hier – angelehnt an die japanische Chef’s-Choice-Variante Omakase (übersetzt: „Ich überlasse es dir.“) – natürlich Ö-Makase heißen muss (abends: fünf Gänge für 85 Euro/mittags: zwei Gänge für 35 Euro). Um es vorwegzunehmen: Beides war gut. Allerdings haben uns die elaborierteren À-la-carte-Gerichte besser gefallen. Ob das Zufall war, ein Versehen oder gewollt, wird die Küche am besten wissen.

Nach einem Küchengruß (Sauerteigbrot zu Frischkäse-Kohlrabi-Dip mit Basilikumöl) starteten wir mit Kaiser-Franzls-Krachsalat, ein umwerfend knackiger grüner Salat im Cesar-Style, mit Kirschtomaten, Mini-Croutons, geraspeltem Bergkäse und einem herrlich geschmackigen Dressing auf Eigelb-Basis. Der Salat war mit 21 Euro auch knackig bepreist; gute Zutaten kosten eben, lohnen sich aber auch. Ästhetisch wie aromatisch ein Genuss war auch die zweite Vorspeise, der bayerische Saibling war auf den Punkt gegart, also noch zart glasig, Essigzwiebeln und Stachelbeere lieferten eine elegante, durch Kartoffelwürfelchen ausbalancierte Säure, zu der die zartbittere Haube aus Frisee-Salat ein perfekter Sidekick war (23 Euro).
Überhaupt der Fisch: Äußerst ansprechend angerichtet war auch der auf der Haut gebratene Zander aus dem Salzkammergut, das Fleisch zart, aber mit schönem Biss, begleitet von einer gleichfalls eleganten Kombi aus Räucherschaum, Birne, nussigen Gartenbohnen, knackigen grünen Bohnen und Grapefruitfilets (34 Euro). Es sind die Produktqualität und die ungewöhnliche Kombination mancher Zutaten und Aromen, die vielen Gerichten im Obers zu ihrer Güte verhelfen. Manchmal sind es Kleinigkeiten: Das butterzarte Kalbswangerl aus Kastelruth (36) etwa hatte eine unbestreitbar aromatische Soße und wäre auch für sich genommen gut gewesen, den Kick aber brachte eine Variation aus lauwarmen Spitzentomaten sowie eine Salsa verde, die sogar das sonst immer etwas brave Sellerie-Püree dazu sofort in die Sommerfrische entführte.

Auch das Ö-Makase-Menü am zweiten Abend startete vielversprechend – mit fein geräuchertem Bauchspeck zum Brot und hausgebeizter Lachsforelle in Joghurt-Kräuteröl-Soße –, fiel dann aber leider ein wenig ab. Was auch daran lag, dass der Küche bei den beiden folgenden Gängen – zarte Schweinebäckchen, Eierschwammerln und Jus auf cremiger Polenta sowie Kabeljau, Lauchkartoffeln, gedünsteter Spinat und Enzianschaum – ein wenig das Salzfass ausgerutscht war. Der Fisch war außerdem deutlich zu weich gegart. Doch wir wollen nicht kleinlich sein, das sind handwerkliche Schnitzer, die vorkommen können.
Auch die Tatsache, dass der Kabeljau weder aus der Etsch noch aus dem Völser Weiher geangelt war, brachte uns weniger aus der Ruhe als zum Nachdenken. Crowdpleaser-Zutaten sind wichtig für die Gastronomie, ja, doch bitte nicht übertreiben (wir hatten Lachsforelle, Kabeljau, Entrecôte, Kalbsbäckchen). Lukas Gietl könnte sich den Mut erlauben, ein paar davon aus seiner Küche zu streichen. Zweimal Fisch und zweimal Fleisch bei fünf Gängen Chef’s Choice, wenn wir es im Obers nicht besser erlebt hätten, würden wir sagen: Das wirkt fast ein bisschen denkfaul. Und weder allzu spannend noch zeitgemäß. Die Alpenküche gibt wahrlich auch den einen oder anderen interessanten vegetarischen Gang her.

Allerdings hat uns das perfekt rosa gebratene Entrecôte mit der schönen Mischung aus Zuckerschoten, Tomaten, Pfifferlingen, gegrilltem Portobello-Topping und Sellerie-Püree dann schnell wieder versöhnt. Und auch die Nachspeisen hier (Marille mit Kernöl und Dulce de Leche, Palatschinken sowie der dekonstruierte Tortenklassiker Weißwälder Kirsch) sind standesgemäß österreichisch. Wir kommen sicher gerne wieder.
Das Obers, Gerner Straße 48, 80638 München, 089/92 74 44 28, Öffnungszeiten: Mittwoch bis Samstag 11.30–22 Uhr
Die SZ-Kostprobe
Die Restaurant-Kritik „Kostprobe“ der Süddeutschen Zeitung hat eine lange Tradition: Seit 1975 erscheint sie wöchentlich im Lokalteil, seit einigen Jahren auch online. Etwa ein Dutzend kulinarisch bewanderte Redakteurinnen und Redakteure aus sämtlichen Ressorts – von München, Wissen bis zur Politik – schreiben im Wechsel über die Gastronomie in der Stadt. Die Auswahl ist unendlich, die bayerische Wirtschaft kommt genauso dran wie das griechische Fischlokal, die amerikanische Fast-Food-Kette, der besondere Bratwurststand oder das mit Sternen dekorierte Gourmetlokal. Das Besondere an der SZ-Kostprobe: Die Autorinnen und Autoren schreiben unter Pseudonym, oft ist dies kulinarisch angehaucht. Sie gehen unerkannt etwa zwei- bis dreimal in das zu testende Lokal, je nachdem, wie lange das von der Redaktion vorgegebene Budget reicht. Eiserne Grundregeln: hundert Tage Schonfrist, bis sich die Küche eines neuen Lokals eingearbeitet hat. Und: sich nie bei der Arbeit als Restaurantkritiker erwischen lassen – um unbefangen Speis und Trank, Service und Atmosphäre beschreiben zu können.

