Ganz immun gegen Weihnachtsstress scheint er nicht zu sein. Umgeben von Kruzifix und Sechzger-Plüschlöwe sitzt Pfarrer Rainer Maria Schießler im Büro des Katholischen Pfarramts St. Maximilian und wartet etwas ungeduldig das Ende des Interviews ab, um sich zum Baum-Aussuchen aufs Rad gen Mariahilfplatz zu schwingen. Doch der Eindruck mag täuschen. Schießler schwärmt von der "unglaublichen Leichtigkeit", die er zur jetzigen Weihnachtszeit empfinde. Wo andere wegen eingebüßter Routine und unumgänglicher Veränderung ins Lamentieren verfallen, holen umtriebige Umdenker wie Schießler Schwung.
Nach der Devise "nichts ausfallen, sondern etwas einfallen lassen" gab er im Herbst dem Organisationstrio aus der Musikerin Fany Kammerlander, Monsignore Siegfried Kneißl und Stephan Alof, Mitglied der hauseigenen Kirchenverwaltung, ohne Zögern grünes Licht für das Projekt "Advent Culture". Gut 30 Gottesdienste zwischen erstem Advent und Heilig Drei König werden von freischaffenden lokalen Musikergruppen verschiedenster Genres gestaltet, und das gegen angemessene Gagen aus Spenden und Sponsoring.
So dankend alle Musizierenden Fany Kammerlanders Anfrage annahmen, so flexibel mussten sie angesichts der wechselnden Lockdown-Regelungen innerhalb der vergangenen Monate reagieren. Das betraf wohl am meisten von allen Munich Tetra Brass, das junge Blechbläser-Quartett aus je zwei Trompeten (Aljoscha Zierow, Philipp Lüdecke) und Posaunen (Stephan Gerblinger, Jakob Grimm), das drei der prominentesten Programmpunkte bestritt: Zwei Christmetten von 20 bis 22 Uhr und das Hirtenamt am ersten Weihnachtsfeiertag.
"Advent Culture", zunächst als ein einziges Musikgottesdienst-Wochenende geplant und letztlich coronabedingt auf mehrere Wochen entzerrt, reagierte auf die Einschränkungen mit Besucherlisten und Wäscheklammern (des Mitzählens halber) am Eingang, Online-Streaming der Gottesdienste und zuletzt mit der Vorab-Aufzeichnung des späteren Heilig-Abend-Programms, um die Bedingungen der Ausgangssperre einzuhalten. Munich Tetra Brass nimmt's gelassen, ein "Ostern 2.0" wäre viel schlimmer gewesen. "Für mich hat die Kirche im ersten Lockdown komplett versagt", so Posaunist Jakob Grimm. "Ich finde es gut, wenn sie sich jetzt etwas politischer zeigt und als moralische Instanz nicht schweigt. Deswegen ist diese Aktion super. Man sollte die Leute trotz Ausgangssperre am Heiligabend nicht allein lassen."
Von Beteiligten und Publikum erhielt das Projekt von Anfang an viel Zuspruch. Und auch von der Diözese bekam Pfarrer Schießler keinen Gegenwind. Seine Musikgottesdienste seien sogar von höchster Stelle befürwortet worden, obgleich ihn dieses Lob des Kardinals nicht persönlich erreicht habe, fügt er etwas murrend hinzu. Aber immerhin, bot doch die Herangehensweise dieses eher unorthodoxen und medienaffinen Geistlichen in der Vergangenheit genug Angriffsfläche für Kritik aus den eigenen Reihen. Ums Rebellentum ginge es ihm aber nicht, seine Gottesdienste seien nicht etwa eine Art "Hintertürchen" für verbotene Konzerte, sondern Privileg und hohes Gut an Verantwortung: "Wir brauchen keine Revolutionäre, sondern konstruktives Arbeiten. Wenn ich an die Mundkommunion oder Sonntagspflicht denke, hat Corona so vieles möglich gemacht. Man kann über alles reden."
Diese Einigkeit von Tradition und Umbruch griffen Munich Tetra Brass wohlbalanciert in ihrem Programm auf. Mal feierlich getragen bei weihnachtlichen Gotteslob-Klassikern, mal mutig modern bei einer Blechbläser-Suite von Koetsier: Das Programm sollte zu diesem Jahr passen und nicht allzu plakativ dem entsprechen, was man an Weihnachten von einem Blechbläser-Ensemble erwartet, so Jakob Grimm. Diese Reihe sei schließlich etwas Progressives.
Bei der Programmgestaltung lässt man den Musikern freie Hand, nur für das Hirtenamt am ersten Weihnachtsfeiertag hatte Pfarrer Schießler besondere Wünsche: zeitlose Gemeindelieder wie "Tochter Zion" oder "Es ist ein Ros' entsprungen" in reduzierten, ursprünglichen Blechbläserklängen. So viel Virtuosität und Avantgarde auch im Quartett Munich Tetra Brass - das wohl als erstes Ensemble dieser Besetzung im Kammermusik-Master an der Hochschule für Musik und Theater München studiert - stecken mag, so sehr strahlt es doch in diesen zurückgenommenen Momenten, wo Blechbläserakkorde in vollkommener Präzision, Einheit und ehrfürchtig dosierter Dynamik ihre eigentliche Kraft entfalten.
Überhaupt schien das Hirtenamt, diese "kleine" Messe, wie Schießler sie eröffnete, mit einem ganz besonderen Zauber behaftet, vielleicht mehr noch als der zwölfstündige Christmetten-Marathon des Vortags. Nur 13 Besucher feierten das Hirtenamt in Präsenz, sei es dem Virus oder der frühen Uhrzeit geschuldet, zu der Münchens Straßen wie leergefegt ruhten. Diese nahezu intime Besucherrunde im Einklang mit dem würdevollen Spiel der Musiker schaffte an diesem Tag eine stimmige, demütige Atmosphäre.
Schlicht hatte sich Pfarrer Schießler diesen Gottesdienst gewünscht, denn genau in dieser Bescheidenheit liege nicht nur die Essenz des dazugehörigen Hirten-Evangeliums, sondern auch die des vergangenen Jahres. Als Teil der Nachkriegsgeneration habe er noch nie "armes" Weihnachten erleben müssen, weder materiell, noch wie jetzt emotional. Im Hirtenamt wie auch im Pandemieverlauf sei jetzt der Moment des Zur-Ruhe-Kommens: "Als Junge hab' ich es immer genossen, wenn zwischen dem Psalmgebet und dem gemeinsamen Singen fünf bis acht Minuten absolute, geballte Stille war. Wir haben die Stille verlernt, vielleicht können wir sie heuer wieder lernen."
Die Kirche könne dabei helfen. Ihre Aufgabe besteht laut Schießler nun dezidiert nicht darin, die Wirklichkeit zu ignorieren oder gar das Virus durch Gebete bekämpfen zu wollen, dafür hätte man die Wissenschaft, dazu brauche es keinen Gott. Nein, die Kirche müsse nun Heimat und einen Raum der Geborgenheit bieten. St. Maximilian gelingt es durch "Advent Culture", den oft eingeschworenen Kreis der Gläubigen zu erweitern, denn auch Besucher, die im allgemeinen kaum Bezug zu Kirche haben und ohne Musikprogramm womöglich nicht gekommen wären, sind herzlich willkommen.
Eine Gottesdienstbesucherin merkte dem Pfarrer gegenüber an: "So stelle ich mir Gottesdienst vor, mit Effekten der Verfremdung, mit dem Unerwarteten." Da rennt sie bei Schießler natürlich offene Türen ein. Ein Loblied dürfe seinetwegen auch zeitgenössisch sein, Liturgie dürfe frei sein, damit liturgische "Patzer" keine sind, und Zeiten wie diese könnten auch Chancen bieten: "Es muss unbedingt was bleiben, eine Öffnung der Liturgie und des Kirchenraums. Ich würde mir wünschen, dass die Wortführer der großen beiden Konfessionen sich hinstellen und sagen: Jetzt haben wir es erlebt beim Virus, da sind wir alle gleich, werden wir also bitte Eins und machen keinen Unterschied."
Als Schießler die Gemeinde aus der Christmette entlässt mit der Botschaft, sie möge positiv ins neue Jahr gehen, da ja in vielerlei Hinsicht ein neues Leben beginne, erntet er stürmischen, für manchen Traditionalisten vielleicht liturgiewidrigen Applaus wie zuvor die Musiker nach ihren Darbietungen. Tags drauf kehrt dann mit dem Hirtenamt Ruhe ein. Wer weiß, vielleicht hat nun die Stunde der Kirche geschlagen, ganz still und leise.