Bedürftige Senioren in München:"Ihr müsst euch nicht schämen"

Das fertige Bild von Christl Obermayer.

"Da hab ich ja Grübchen." sagt Christl Obermayer, als sie das fertige Bild von ihr sieht.

(Foto: GABO)

Christl Obermayer bekommt 190 Euro Rente im Monat. Schicksale wie dieses will die Fotografin Gabo sichtbar machen - denn mehr als 70 000 Senioren gelten in München als armutsgefährdet.

Von Kathrin Aldenhoff

Mit fast 75 Jahren stellt Christl Obermayer fest, dass sie Grübchen hat. Sie sieht es auf dem Monitor, der die Bilder zeigt, die in der letzten halben Stunde entstanden sind. Die Fotografin Gabo und die Menschen, die im Studio herumschwirren, Kameras reichen und die Schärfe der Bilder kontrollieren, Christl Obermayer geschminkt haben und sie überhaupt hierhergeholt haben, in dieses Studio, sie alle attestieren der Rentnerin im Laufe des Fotoshootings abwechselnd etwas Japanisches und etwas Indianisches. Christl Obermayer betrachtet die Bilder und sagt: "Da hab ich ja Grübchen."

Christl Obermayer ist kein Model, sie ist kein Star, keine Prominente. Sie ist keiner von den Menschen, die Fotografin Gabo üblicherweise vor der Kamera hat. Gabo, die als Gabriele Oestreich früher gemodelt hat, fotografiert seit den Achtzigerjahren, und zwar sehr erfolgreich: Boris Becker, Yoko Ono, Kevin Costner und Angelina Jolie. Aber in dieser Woche fotografiert sie für den Verein "Ein Herz für Rentner" in einem Studio im Münchner Werksviertel 15 Senioren, Frauen und Männer, die von ihrer Rente nicht leben können.

Christl Obermayer, die in Wirklichkeit einen anderen Nachnamen hat, ist eine von ihnen. Sie bekommt eine Rente von 190 Euro im Monat. Weil das nicht reicht, erhält sie Grundsicherung, die Miete für ihre Zweizimmerwohnung wird gezahlt. Ihre Lebensmittel holt sie bei der Tafel, nur was es dort nicht gibt, kauft sie dazu. Sie ist auf Hilfe angewiesen. "Alles was ich anhabe, ist geschenkt", sagt sie und zeigt an sich herunter. Verbittert ist sie nicht, nennt sich selbst eine Optimistin - auch nach einem Schulterbruch vor eineinhalb Jahren, der nicht mehr heilen wird. "Ich singe in zwei Chören, das hilft mir weiter. Da kann man Sorgen vergessen."

Mehr als 70 000 Münchner über 65 gelten als armutsgefährdet, etwas mehr als 15 000 Rentner erhalten Grundsicherung im Alter - nicht alle, denen sie zustehen würde, beantragen sie auch. Um Menschen zu helfen, die gearbeitet haben, aber von ihrer Rente nicht leben können, hat Sandra Bisping 2016 den Verein "Ein Herz für Rentner" in München gegründet. "Wir wollen ihnen sagen: Ihr müsst euch nicht schämen, ihr habt nichts falsch gemacht", sagt die Gründerin und erste Vorsitzende.

300 Rentnern hilft der Verein im Moment. Mit einer Patenschaft von 38 Euro monatlich, mit Geld für eine neue Brille oder eine neue Matratze, mit Treffen, die der Verein organisiert: kostenlose Konzerte und Ausflüge, Kaffeeklatsch oder ein Besuch auf der Wiesn. Möglich machen das Spenden und verschiedene Kooperationspartner. Christl Obermayer hat vom Verein Geld für Medikamente bekommen, die von der Krankenkasse nicht gezahlt werden. Und eine Kaffeemaschine. "Die hätte ich mir für 59 Euro nie leisten können." Und nun bekommt sie ein Fotoshooting.

Die Idee dazu kam Sandra Bisping, als sie auf Instagram das Porträt einer alten Dame sah, das die Fotografin Gabo gepostet hatte: ein Bild ihrer Großmutter. Sie fragte Gabo, ob sie Lust hätte, Rentner zu fotografieren - sie hatte. Sie wollte das immer schon machen, sagt Gabo, die "alten Weisen" fotografieren. "Das bringt so richtig Spaß, das sind tolle Gesichter", schwärmt sie. Ihre Bilder sollen die Menschen sichtbar machen, alle Porträtierten bekommen später einen gerahmten Fotodruck geschenkt. Vielleicht wird es eine Ausstellung geben.

Der Dutt vom Friseur bleibt über Wochen

Christl Obermayer kommt in das Fotostudio, eine große Frau, blaue Augen, weißes Haar, zu einem Dutt nach oben gedreht, eine rote Brille mit Glitzersteinen auf der Nase. Gabo und Sandra Bisping begrüßen sie, auf dem Esstisch stehen noch die Reste des Mittagessens: ein Berg asiatischer Nudeln, Mango-Papaya-Salat und ein Obstkorb. Sandra Bisping räumt ab, Christl Obermayer setzt sich, trinkt einen schwarzen Tee. Fragt, ob sie eine Banane essen kann.

Dann geht es weiter nach nebenan, in die Maske. "Die Haare find ich ja schon cool so", sagt die Frau, die Christl Obermayer für das Shooting schminkt. "Das hat ein Friseur gemacht. Die sind schon eine Weile so", sagt die Rentnerin und es braucht ein bisschen, bis die junge Frau verstanden hat, dass der Dutt mehrere Wochen so bleibt, weil sich Christl Obermayer nach einem Schulterbruch nicht mehr alleine die Haare waschen kann. Und ein Friseurbesuch teuer ist. Ende Juni hat sie Geburtstag, sie wird 75 Jahre alt. Davor will sie den Dutt vom Friseur neu machen lassen.

Die junge Frau streicht mit einem Pinsel Make-up auf das Gesicht der Rentnerin, erklärt ihr, dass sie die Haut etwas dunkler mache für die Fotos. Sie unterhalten sich über den Unfall, der Christl Obermayer Leben so verändert hat. Vorher hat sie alte Menschen betreut, ehrenamtlich im Hospizdienst gearbeitet. Das kann sie nun nicht mehr. Sie hat in ihrem Leben viel gemacht: Sie ist gelernte Einzelhandelsverkäuferin, hat als Sekretärin in einem Architekturbüro und in einem Pfarramt gearbeitet. Auf ihrer Visitenkarte steht Altenbetreuung und Fußreflexzonen-Massage. Und sie hat ein Kind. "Mutter, das war mein Hauptberuf", sagt sie. Sie erzählt, wie sie für ihre Tochter und deren Schulfreundinnen in der Mittagspause Pfannkuchen gebacken und sie in der Luft gewendet hat. Und wie es einmal Teigstücke in ihrer Küche regnete, weil sie versehentlich auch den Kaiserschmarrn in die Luft warf. "Meine Tochter erzählt das heute noch."

Fertig geschminkt betritt Christl Obermayer das Studio, es geht los. "Jedes Gesicht darf raus", sagt Gabo, "Glück, Trauer." Christl Obermayer nimmt in einem riesigen weißen Korbsessel Platz. Die Fotografin verändert einige Details: Der Hals wird noch einmal nachgeschminkt, die Armbanduhr abgelegt, Gabo überzeugt die Rentnerin, ihre Brille abzunehmen - "du bist ja nicht geboren mit der Brille" - und macht schließlich die ersten Bilder.

Während alle vor dem Monitor stehen und prüfen, ob die Komposition des Bildes gut ist oder ob zu Christl Obermayer doch eher ein anderer Stuhl mit einer dezenteren Rückenlehne passt, sitzt die Münchnerin in diesem riesigen Korbsessel in der Fotokulisse, ihre Füße liegen auf einer Holzkiste. Sie sieht entspannt aus. Heute Morgen war sie aufgeregt. Ob alles klappt, sie alles finden würde, dass sie nichts verpasst. "Das hat man ja nicht alle Tage." Und nun sitzt sie da und alles dreht sich um sie. Oder eben um das Bild von ihr.

Sie entscheiden dann, den Stuhl auszutauschen. "Darf ich Ihnen die Hand reichen, gnädige Frau?", fragt Gabo und hilft Christl Obermayer beim Aufstehen. Nun also ein brauner Ledersessel, Gabo fotografiert weiter. "Wie eine Südseeschönheit", sagt eine junge Frau, die auf dem Monitor die Bilder betrachtet. "Ja, mindestens", sagt Christl Obermayer und zieht die Augenbrauen nach oben. Und lächelt.

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