Reichspogromnacht-Zeitzeugin:"Ich war außer mir vor Hass"

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Der Besuch der alten Dame: Ruth Meros hat miterlebt, wie zwei Synagogen von den Nazis zerstört wurden. Jetzt kehrt sie nach München zurück und freut sich auf die Einweihung der neuen Hauptsynagoge.

Bernd Oswald

Es ist eine schwierige Liebe, die Ruth Meros zu München hat, der Stadt in der sie geboren wurde, aufgewachsen ist, gedemütigt - und zur Emigration nach Palästina gezwungen wurde. Der Stadt, in die sie zurückgekehrt ist, um ihre Eltern zu pflegen und zu beerdigen. Der Stadt, in der sie ihre Tochter großgezogen hat. Inzwischen ist es die Stadt, in der sie die sonnigere Hälfte des Jahres verbringt.

Ruth Meros verbindet eine schwierige Liebe mit München, zugleich ihre Heimatstadt und die "Hauptstadt der Bewegung". (Foto: Foto: Bernd Oswald)

Die anderen sechs Monate wohnt die alte Dame, die ihr Alter nicht in der Zeitung lesen will, in Tel Aviv: "Das entspricht meiner geteilten Identität." Wenn es die Judenverfolgung durch die Nazis nicht gegeben hätte, wäre Ruth Meros vielleicht die ganze Zeit in München und könnte sich das beschwerliche Pendeln zwischen ihren Wohnsitzen sparen.

Doch Ruth Meros, geborene Goldschmidt, hat schon weitaus schlimmere Dinge mitgemacht, vor allem im München der 30er Jahre. Ihre Eltern Emil und Alice Goldschmidt waren Juden, der Vater nicht religiös, die Mutter fromm. Schon als Kind begleitete Ruth ihre Mutter in die Synagoge: "Für mich war sie ein fantastischer und heiliger Ort." Bis Juni 1938.

Da verfügte Hitler, dass die Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße hinter dem Stachus abzureißen sei. Der Diktator feierte gern im benachbarten Künstlerhaus und die angrenzende Synagoge war ihm ein Dorn im Auge.

Vor dem Abriss packte Ruth Goldschmidt zusammen mit Werner Cahnmann, dem Vorsitzenden des jüdischen Zentralvereins, aus der Bibliothek der benachbarten Israelitischen Kultusgemeinde, die Bücher ein. Wenigstens ein kleines Stück jüdischer Kultur war gerettet. Auch die Orgel der Synagoge konnte in Sicherheit gebracht werden.

Doch am 9. Juni rückten die Bautrupps an und begannen mit dem Abriss des jüdischen Gotteshauses, das 51 Jahre lang an dieser Stelle gestanden hatte. Ruth Goldschmidt, inzwischen fast eine erwachsene Frau, macht als Augenzeugin eine schmerzvolle Erfahrung: "Ich habe geweint und war außer mir vor Hass auf Hitler."

SA-Leute in Zivil dringen in die Synagoge ein

Fünf Monate später zetteln die Nazis die "Reichskristallnacht" an: Vom Alten Rathaus in München aus verbreiten Gauleiter Wagner und SA-Obere in der Nacht des 9. November 1938 die Order, in ganz Deutschland gegen alles Jüdische vorzugehen. Auch in München werden unzählige jüdische Geschäfte verwüstet und zum Teil geplündert.

Ein Kaufmann wird von SA-Truppen aufgesucht und ermordet. In Zivil gekleidete SA-Leute dringen in die Synagoge Ohel Jakob in der Herzog-Rudolf-Straße ein, zerstören die Einrichtung und legen ein Feuer, in das sie die Kultgegenstände, darunter die Thora-Rollen werfen.

Auch zu diesem Ort hatte Ruth Goldschmidt eine persönliche Beziehung. Seit kurzer Zeit machte sie im benachbarten Kindergarten der Kultusgemeinde in der Herzog-Rudolf-Straße ein Praktikum. Am 10. November macht sie sich auf den Weg in die Arbeit.

"Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Ich wollte gerade zu den Kindern, da war die Synagoge in Brand. Der Platz direkt vor dem Haus war abgesperrt, überall standen Feuerwehrmänner oder SA-Leute. Weiter hinten war eine Menge von Menschen, einige machten hämische Bemerkungen. Todunglücklich blieb ich eine Weile stehen, bevor ich am Boden zerstört nach Hause zurückkehrte."

"Nun wussten wir, wie schlimm es werden würde"

Dieser Schock war noch nicht verdaut, als es wenige Tage später um halb sechs Uhr morgens an der Tür der Goldschmidts Sturm läutet. Zwei Männer in Zivil drängen in die Wohnung und verhaften Ruths Vater. Einen Grund nennen sie nicht. Emil Goldschmidt wird ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Aber auch das sagt man seiner Familie nicht.

Im KZ hat der Kaufmann zwar Glück im Unglück und wird weniger schikaniert als andere Häftlinge; dennoch muss er auf sein Vermögen verzichten.

"Nun wussten wir, wie schlimm es werden würde", erinnert sich Ruth Meros. Ihre Familie bereitet die Emigration nach Palästina vor. "Mir war es weh ums Herz, denn ich war ja sehr verwurzelt in München."

Mit nichts als ein paar Koffern und 10 Mark, aber ohne sonstige Wertgegenstände, besteigt die Familie ein Schiff nach Tel Aviv, wo sie im Dezember 1939 angelangte. Bruder Heinz war schon 1936 in die Schweiz ausgewandert und kehrte 1943 nach Palästina zur Familie zurück.

Erst 1953 betreten die Eltern erstmals nach dem Krieg Münchner Boden, als Besucher. Nachdem Emil Goldschmidt, inzwischen über 70, schwer erkrankt, bleibt das Paar in München. Ruth kommt ebenfalls nach, um nach den Eltern zu sehen. Nazi-Verfolgung und Krieg hatten den Goldschmidts aber auch so gut wie alle Freunde genommen. "Ich habe praktisch niemanden mehr gekannt", erinnert sich Ruth Meros, die in Israel geheiratet und eine Familie gegründet hatte.

Geteilte Identität

Auch Tochter Gabriella hat zwei Seelen in ihrer Brust: Sie ist in Israel geboren und in München aufgewachsen. Sie kämpft in Deutschland gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus und unterstützt bei ihren häufigen Besuchen in Israel die Arbeit der Friedensfrauen, unter anderem mit ihrer Arbeit als Fotografin.

Dauerhaft nach München zurück kam Ruth Meros durch die Krankheit ihrer Mutter. Tel Aviv ist dennoch ihre zweite Heimat geblieben, seit 1980 für sechs Monate im Jahr. Die sechs Monate, die Ruth Meros 2006 in München verbracht hat, gehen mit der Einweihung der neuen Synagoge zu Ende: "Das ist für mich ein wichtiges und freudiges Ereignis", sagt die alte Dame, die am Donnerstag zu den Ehrengästen zählt. Am Samstag fliegt sie zurück nach Tel Aviv. Wie es ihrer geteilten Identität entspricht.

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