Refugio-Chef Soyer:Der Bedarf steigt

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Refugio-Geschäftsführer Jürgen Soyer bekommt viele Anfragen. (Foto: Angelika Bardehle)

Das therapeutische Angebot in München ist besser als anderswo - doch es reicht nicht

Von Katja Riedel, München

Jürgen Soyer muss derzeit sehr oft ans Telefon gehen und E-Mails beantworten, mehr als er will, manchmal auch mehr, als er schaffen kann. Denn Soyer hat etwas zu bieten, was anderen fehlt, aber alle brauchen: Flüchtlingskompetenz. Kompetenz im Umgang mit jenen, die schon in ihrer Heimat Furchtbares erlebt haben. Jürgen Soyer ist der Leiter von Refugio, der Münchner Organisation, in der Flüchtlinge seit 21 Jahren psychologische Betreuung finden. Drei Flure voller Therapieräume gibt es bei Refugio München. Das ist viel, viel mehr als in anderen deutschen Städten. Und doch ist es viel zu wenig, um all den Traumatisierten Hilfe zu bieten. Das Missverhältnis zwischen denen, die Hilfe brauchen, und jenen, die sie bekommen können, ist noch größer geworden, seit immer mehr Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland kommen.

Wie vielen Traumatisierten sie in diesem Jahr Hilfe geboten haben, ob in Einzel- oder Gruppentherapie, hat Refugio derzeit noch nicht erfassen können. Im vergangenen Jahr waren es 1800, in diesem dürften es deutlich mehr sein. Auch der Etat von etwa 2,3 Millionen Euro wird sich wohl erhöhen. Der größte Finanzier ist die Landeshauptstadt, gefolgt von Landkreis, Regierung von Oberbayern, Projektmitteln und Stiftungen. Doch die Kapazitäten reichen nicht: Gerade bei den Erwachsenen können sie nicht jeden Hilfesuchenden behandeln. Bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wollen sie jeden aufnehmen, bei Kindern unter 14 gibt es keine Wartezeit.

Gerade bei Letzteren gibt es laut Jürgen Soyer eine "signifikante Steigerung", Sechs- und Siebenjährige, die Bombenanschläge miterlebt haben, sterbende Angehörige, dramatische Ereignisse auf Flüchtlingsbooten. Die meisten der Kinder kommen aus Syrien, bei den etwas älteren sind die meisten aus Somalia, Afghanistan, viele kommen auch aus Eritrea. "Wir haben so gut wie niemanden, bei dem nicht auch die Flucht dramatisch war", sagt Jürgen Soyer. Die Erfahrungen haben die Menschen verändert: Sie sind ängstlich, wenig zugänglich für rationale Argumente. Und sie sind deshalb auch sehr aufmerksam für aktuelle politische Debatten: neue Einzelfallprüfungen bei syrischen Asylbewerbern, Ideen, Afghanen zurückzuschicken, den Familiennachzug zu begrenzen. "Wir müssten keine Nachrichten hören. Wir merken das an unseren Klienten", sagt Soyer. Sie seien wie Seismografen. Immer wieder würden Patienten in der Therapie zurückgeworfen, weil sie Angst hätten. Dabei wäre laut Soyer für eine gelingende Integration nichts wichtiger als das: Sicherheit für die Geflüchteten und ihre Familien, dass sie bleiben können.

© SZ vom 07.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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