Missbrauch in der katholischen Kirche:Ratzinger zeitweise als Beschuldigter geführt

Missbrauch in der katholischen Kirche: Papst Benedikt XVI. auf einem Bild aus dem Jahr 2011: Was wusste er über Missbrauchstaten während seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising?

Papst Benedikt XVI. auf einem Bild aus dem Jahr 2011: Was wusste er über Missbrauchstaten während seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising?

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Die Staatsanwaltschaft München ermittelte gegen den früheren Papst wegen Beihilfe zum Missbrauch. Das Verfahren wurde aber ebenso eingestellt wie die gegen andere Kirchenobere - und das, obwohl das Erzbistum über Jahrzehnte einen Täter als Klinikpfarrer einsetzte

Von Bernd Kastner

Ein wegen Missbrauchs verurteilter katholischer Priester wird nach fünf Jahren Haft vom Münchner Erzbistum weiter eingesetzt, als Klinikseelsorger, über Jahrzehnte. Er hat Kontakt zu Ministranten - und begeht weiteren Missbrauch. Das hat die Staatsanwaltschaft München I ermittelt. Zu strafrechtlichen Konsequenzen für zwei ehemals verantwortliche Kirchenoberen, Kardinal Friedrich Wetter und seinen Generalvikar Gerhard Gruber, führte diese Erkenntnis jedoch nicht. Die Verfahren gegen sie wurden eingestellt.

Das gilt auch für die anderen fünf Ermittlungsverfahren auf Basis des 2022 veröffentlichten Missbrauchsgutachtens der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW). Hans Kornprobst, Leiter der Staatsanwaltschaft München I, berichtete, dass auch gegen Joseph Ratzinger in zwei Missbrauchsfällen ermittelt worden war. Im Fall 41 aus dem WSW-Gutachten sei Ratzinger als Beschuldigter geführt worden, ebenso im Fall eines weiteren Missbrauchstäters (Fall 40). Weil aber die Taten dieser Priester inzwischen verjährt waren, gilt das auch für den möglichen Vorwurf der Beihilfe zu diesen Taten. Das ist der Grund für die Einstellung des Verfahrens. Ob und inwiefern der spätere Papst damals eine Straftat begangen hat, wurde also nicht mehr untersucht. Ratzinger war Münchner Erzbischof von 1977 bis 1982, an Silvester 2022 starb er.

In allen Verfahren ging es um den Verdacht der Beihilfe zu sexuellem Missbrauch. Trugen Personalverantwortliche vorsätzlich dazu bei, aktiv oder durch Unterlassen, dass Missbrauch möglich wurde? Die Hürden, um solch einen Verdacht zu belegen, seien hoch, erklärte Kornprobst.

Bemerkenswert sind vor allem die Ermittlungsergebnisse zu "Fall 26" aus dem Gutachten. Darin geht es um den Umgang der Erzdiözese mit Priester G., der 1962 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Als Kaplan in der Münchner Pfarrei St. Maximilian hatte er mehrere Kinder missbraucht. Nach seiner Haftentlassung setzte ihn das Erzbistum als Seelsorger in einem oberbayerischen Krankenhaus ein; 2003 wurde er in den Ruhestand versetzt.

Damals hatten das Bistum Beschwerden von Müttern und Ministranten erreicht, wonach Pfarrer G. zumindest Grenzen überschritten habe. Intern gab G. zu, er habe Kindern Zugang zu seiner Privatsauna gewährt, sei mit ihnen in den Urlaub gefahren und habe sie mit hohen Geldbeträgen freigehalten. Auch sei es vorgekommen, dass ihm ein Ministrant in die Hosentasche gelangt habe. Bistumsintern wurde dies festgehalten, aber nie aufgeklärt und auch nicht der Staatsanwaltschaft gemeldet.

Hinweise aus dem Gutachten nahmen die Ermittler zum Anlass, fünf der damaligen Ministranten zu befragen. Dabei hätten diese drei Missbrauchstaten des inzwischen verstorbenen Klinikseelsorgers geschildert; zwei seien ums Jahr 2000 geschehen und noch nicht verjährt. In einem Fall soll G. einen Ministranten bei einer gemeinsamen Fahrt in einem Kliniklift aufgefordert haben, in seine Hosentasche zu greifen. Dabei habe der Junge den erigierten Penis des Priesters berührt. Im anderen Fall sei G. zusammen mit einem Ministranten in seine Sauna gegangen und habe dessen Penis angefasst. Beides wäre strafbar als sexueller Missbrauch, sagt die ermittelnde Staatsanwältin Angela Miechielsen. Die Betroffenen seien zwischen elf und 13 Jahre alt gewesen.

Ist den beiden noch lebenden damaligen Personalverantwortlichen, Wetter und Gruber, strafrechtlich relevantes Verhalten vorzuwerfen, weil sie nicht unterbanden, dass ein verurteilter Täter weiter Kontakt zu Kindern hatte? Nein, sagt Miechielsen. Wetter habe im Dezember 2002 vom Verdacht gegen den Priester erfahren, daraufhin wurde G. in den Ruhestand versetzt. Man habe nicht feststellen können, dass der Kardinal bereits zuvor von Vorwürfen wusste. Ex-Generalvikar Gruber wiederum schied 1990 aus seinem Amt; es sei nicht festzustellen, dass er zum späteren Missbrauch "vorsätzlich" beigetragen habe.

Der "Giftschrank" wurde 2011 aufgelöst

Zu "Fall 26" habe man einige Zeugen vernommen, sagt Staatsanwältin Miechielsen. Weil zwei von ihnen von einem angeblichen Giftschrank im Ordinariat und einem Geheimarchiv berichteten, habe man einen Durchsuchungsbeschluss erwirkt und im Ordinariat, der katholischen Verwaltungszentrale, sowie im Erzbischöflichen Palais, dem Wohn- und Amtssitz von Erzbischof Reinhard Marx, gesucht. Im Tresor im Bischofspalais habe man keine Unterlagen zu Missbrauch gefunden. Einen "Giftschrank" mit versteckten Personalakten zu Missbrauchsfällen habe es früher gegeben, er sei aber 2011 aufgelöst worden; die Papiere seien in die Personalakten einsortiert worden. Behördenchef Kornprobst betonte, dass die Erzdiözese immer die gewünschten Unterlagen herausgegeben habe.

Kornprobst verteidigte sein Haus gegen Kritik, dass es in der Vergangenheit die Kirche mit Samthandschuhen angefasst habe. Man behandle Kirchenmänner wie alle anderen. Vorsichtig kritisch äußerte er sich zur Tatsache, dass die einst verantwortlichen Ermittler das erste Missbrauchsgutachten von 2010 jahrelang ignorierten. "Aus heutiger Sicht" wäre es "besser gewesen", sich das erste Gutachten rasch vom Bistum geben zu lassen. Priester G. ist bereits im ersten Gutachten genannt, zu seinen Taten ums Jahr 2000 gebe es aber nur einen vagen Hinweis. Er hätte nicht für Ermittlungen genügt, sagt Kornprobst.

Auf die Frage, warum die Ermittler die für ihre Kooperation gelobte Diözese damals nicht um freiwillige Herausgabe der Personalakten gebeten habe, sagte Kornprobst: Er wisse nicht, ob die Verantwortlichen damals auch schon kooperiert hätten. Man hat es aber offenbar gar nicht versucht. Hätten die Staatsanwälte vor zehn Jahren in die Kirchenakten geschaut, hätten sie wahrscheinlich deutliche Hinweise auf die jetzt ermittelten Taten von Priester G. gefunden. Damals hätte man G. noch selbst befragen können - er starb 2018.

Das Erzbistum äußerte sich in einer Erklärung nicht zur eigenen Verantwortung abseits des Strafrechts. Es betont aber seinen "unbedingten Aufklärungswillen" und appelliert an Missbrauchsbetroffene, sich zu melden. Auch die Staatsanwaltschaft bittet Betroffene, Anzeige zu erstatten, um rasche Ermittlungen zu ermöglichen.

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