Süddeutsche Zeitung

Ramersdorf:Das Dorf-Gedächtnis

Vor 25 Jahren gründete sich in Ramersdorf der Verein Arbeitskreis Stadtteilgeschichte. Renate Wirthmann war von Anfang an dabei, liebt die Spurensuche und hat seit 1996 den Vorsitz inne

Von Renate Winkler-Schlang, Ramersdorf

Eigentlich wollte Renate Wirthmann als junge Frau Kriminalbeamtin werden, doch ihre Mutter war so entsetzt, dass sie diesen Traum dann doch nicht verwirklichte. Ihre kriminalistische Ader hat die Ramersdorferin aber schlussendlich doch ausgelebt - und zwar bei der Erforschung der Historie ihres Stadtteils, der Häuser und ihrer Bewohner. So manche Beweisfotos hat sie zusammengetragen - mehr als 4000 finden sich im Fundus des Vereins in einem Raum an der Führichschule, dazu seltene Schriftstücke, historische Dokumente. Vor 25 Jahren gründeten 19 Mitglieder des Arbeitskreises Stadtteilgeschichte, der sich zur 125-Jahr-Feier der Eingemeindung von 1864 unter der Regie des damaligen Führichschul-Rektors Axel Jost zusammengefunden hatte, den Verein. Wirthmann war von Anfang an dabei, seit 1996 hat sie den Vorsitz inne. "Weil ihn keiner sonst will", sagt sie und lacht.

Diese besondere Spurensuche im Heimatstadtteil hat sie immer fasziniert. Geboren wurde Wirthmann zwar 1942 "drüben" in Perlach, doch bald fanden ihre Eltern in der Ramersdorfer Grundlersiedlung einen Bauplatz. Seitdem hat sie nie anderswo gelebt. Ein leutseliger Mensch sei sie, schnell habe sie Zugang gefunden zu den Nachbarn und deren Nachbarn; die Menschen vertrauten ihr ihre Erinnerungsstücke an und erzählten ihr die alten Geschichten: "Es war schon viel Arbeit, viele Stunden, aber es war immer sehr schön, denn man hat viele nette und interessante Leute kennengelernt."

Jedes Jahr eine Ausstellung, etwa zur Führichschule, zur Mustersiedlung, zu Karl Preis. Ob Ramersdorf aus der Vogelperspektive oder die Rosenheimer Straße gestern und heute, ob alte und neue Hochzeits- und Kommunionbilder oder andere Zeitreisen zu früheren Firmen etwa - die Resonanz war immer groß, wenn der Verein zur Vernissage rief, meist in die Stadtbücherei an der Führichstraße.

Viele junge und rüstige Rentner waren unter den Gründungsmitgliedern, 25 Jahre später ruht die Arbeit auf den Schultern weniger. "Wir sind auch ein bisschen altmodisch", bekennt Wirthmann - wer keine Mail-Adresse hat, wird nach alter Väter Sitte per Post über Neues informiert. Und niemand hegt so recht Ambitionen, die Schätze einzuscannen und digital verfügbar zu machen. Selbst die Unterzeilen für ausgestellte Bilder werden noch auf der Schreibmaschine getippt, ausgeschnitten, aufgeklebt. Was soll's? Hauptsache, es wurden all die Dinge gesammelt und bewahrt, die sonst weggeworfen worden wären. Altmodisch sei der Verein auch in seinen Finanzen: Stets habe man alles aus eigener Kraft bewältigt, bewusst auf städtische und andere Zuschüsse verzichtet.

Wirthmann hat auch Erzählcafés gegründet, aus denen sieben Bände "Ramersdorfer G'schichten" erwuchsen. Sie organisierte einen Kinder-Fotowettbewerb, suchte Kontakt zur Volkshochschule, für die sie auch Führungen durchs Viertel anbietet, zur Sozialen Stadt, zur Gewofag, zu Kitas, zum Ansichtskartenhändler im alten Ortskern, zu anderen Vereinen im Viertel wie der Schutzgemeinschaft Ramersdorf. Ganz wichtig sind ihr natürlich auch die Kirchen, besonders die katholische Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Maria in Ramersdorf. An den sogenannten Archivtagen, an denen in den alten Unterlagen gestöbert werden kann, wird der Ordner "St. Maria" meist mit besonderem Beschlag belegt.

Renate Wirthmann engagiert sich, weil sie diesen bodenständigen Stadtteil liebt, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch aus acht fortlaufend durchnummerierten Häusern rund um die Kirche bestand, der 1864 eingemeindet und 1926 mit der Tram erschlossen wurde. Sie liebt ihn, obwohl der Bau des Innsbrucker Rings in den Jahren 1959/60 ihm "das Herz zerrissen" hat, obwohl er immer noch auf der Liste der ganz armen Viertel ganz weit oben und im übrigen innerhalb des Stadtbezirks Ramersdorf-Perlach immer im Schatten vor allem von Neuperlach stehe: "Es lässt sich gut leben hier, man kann schon kleine Oasen finden. Und Schickimicki müssen wir nicht werden."

Am 9. März feiert der Arbeitskreis Stadtteilgeschichte Ramersdorf mit geladenen Gästen Jubiläum. Am Donnerstag, 6. April, beginnt um 18 Uhr mit einer Vernissage die Ausstellung "Ramersdorf im Wandel der Zeit", die bis zum 13. Juni in der Bücherei an der Führichstraße zu sehen sein wird. Am 1. Juni folgt der Diavortrag "Vom Dorf zum modernen Stadtviertel", ebenfalls an der Führichstraße.

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SZ vom 08.03.2017
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