Revolution und Rätezeit:"Lauter Tote, lauter Ermordete"

Arbeiter kurz vor seiner Erschießung, 1919

Der Eisendreher Johann Lehner ist eines der vielen unschuldigen Opfer des "weißen Terrors": Er wurde am 3. Mai 1919 mit einem Rotarmisten verwechselt, der zehn Gefangene hatte exekutieren lassen, und ohne Prozess erschossen - dabei konnte sich Lehner sogar ausweisen. Das Bild kursierte als Postkarte "Der Geiselmörder Seidl".

(Foto: SZ-Photo)

Vor genau 100 Jahren herrschen in München Aufruhr und Gewalt, die Räterepublik findet ihr blutiges Ende. Mit bestialischer Gewalt wüten die siegreichen Truppen der Konterrevolution.

Von Joachim Käppner

Selten hat Mathematik politisch solche Wellen geschlagen. Ein Untersuchungsausschuss des Preußischen Landtages tagt, Parteien streiten verbissen, Fememörder schwören Rache. Der Münchner Mathematiker Emil Julius Gumbel, geboren 1891, hat seine Kunst auf ein Feld angewendet, wo nicht die kühlen Lehren der Wissenschaft gelten, sondern der Geist von Hass, Eiferertum, mörderischer Gewalt: Mit kalter Präzision hat er untersucht, was in den Tagen nach dem Einmarsch der "weißen" Regierungstruppen am 1. Mai 1919 in München geschehen ist, und statistisch analysiert, wie die Justiz reagiert hat.

Sein Buch "Vier Jahre politischer Mord" erscheint 1922 und erschüttert die junge Republik: Gumbel weist darin mehr als 300 politische Morde nach. Begangen haben sie die sogenannten Befreier, abseits der Kämpfe. In einem Vorwort schreibt Gumbel: "Von behördlicher Seite ist kein einziger Versuch gemacht worden, die Richtigkeit meiner Behauptungen zu bestreiten. Im Gegenteil, der Reichsjustizminister hat meine Behauptungen mehrfach bestätigt. Trotzdem ist nicht ein einziger Mörder verurteilt worden."

Da ist der Fall Marie Kling, die als Sanitäterin zur "Roten Armee" gegangen war. Soldaten schleppen sie nachts ins Stadelheimer Gefängnis und quälen sie bestialisch, sie behandeln die junge Frau als lebende Zielscheibe und jagen ihr vom Fuß aufwärts Kugeln in den Körper, bis sie tot ist; ein sadistischer, sexuell aufgeladener Mord. Später geht die Familie Kling vor Gericht - die Justiz erklärt, bedauerlicherweise habe man die Akten verloren.

Da ist der Brothändler Jakob Probst, ein offenkundig unbeteiligter Zivilist. Uniformierte des Freikorps Epp holen ihn aus seiner Wohnung, angeblich zu einer kurzen Überprüfung. Auf der Straße erschießen sie ihn sofort, ohne ein Wort gefragt zu haben. Da ist der gefangene Rotarmist, dessen Leiche morgens vor den Mauern Stadelheims liegt, gestorben durch Kopfschuss. Die Mörder haben Uhr, etwas Geld und Schuhe geraubt. Eine Klage der Familie weist das Oberlandesgericht München ab, da das Opfer "die Bevölkerung aufgehetzt und dadurch mittelbar die Ausschreitungen der Soldaten selbst erzeugt hat".

Gumbel, ein erklärter Pazifist, hat nachweisbare Fälle dokumentiert; Schätzungen zufolge sind mehr als 1000 Menschen dem "weißen Terror" zum Opfer gefallen, ohne Rechtsgrundlage. Wie konnte so etwas geschehen? Das Deutsche Reich war seit wenigen Monaten eine Demokratie, seit Januar 1919 regiert von der "Weimarer Koalition", deren Parteien sämtlich zur Republik stehen: von der SPD, den Linksliberalen der DDP, dem katholischen Zentrum.

Doch diese Regierung schickt eine Truppe aus rechtsradikalen Freikorps und Militäreinheiten nach München, welche auf die Demokratie spucken; ihre Führer bezeichnen die Regierung in Berlin gern als "Lumpengesindel", machen sie verantwortlich für den verlorenen Krieg. Die Regierung hat ihre schlimmsten Feinde bewaffnet und gegen das rote München von der Kette gelassen.

Schon am 2. Mai 1919 haben Konterrevolutionäre bei Gräfelfing 52 frühere russische Kriegsgefangene erschossen, denen vorgeworfen wurde, sie hätten für die Rote Armee der Räterepublik gekämpft. Jetzt, am 5. Mai 1919, erschießen Angehörige des Freikorps Lützow im Innenhof des Hofbräu in Haidhausen zwölf Perlacher Arbeiter und Sozialdemokraten. Der lutherische Pfarrer Robert Hell hat sie als Widerständler denunziert, zu Unrecht; die Opfer werden in der Nacht ahnungslos aus ihren Betten geholt. Mit Verhören hält sich das Freikorps nicht auf, die Arbeiter werden zur Brauerei gefahren, eingesperrt, wenig später vor einen Kohlenhaufen gestellt und umgebracht.

Einen Tag später umstellt eine Freikorpstruppe ein angebliches Spartakistenhaus, in dem sich gerade ein katholischer Gesellenverein zur Theaterprobe trifft. Die Soldaten sind wie im Blutrausch, sie eröffnen das Feuer, stechen mit Bajonetten auf die 21 jungen Männer ein und trampeln die Verletzten zu Tode. Ein Zeuge sagt später vor Gericht: "Die Erschossenen sahen fürchterlich aus. Einem war die Nase ins Gesicht hineingetreten, anderen fehlte der halbe Hinterkopf." Selbst Bayerns knochenreaktionäre Justiz kommt um ein Verfahren nicht herum, sie verurteilt am Ende aber nur vier niedere Dienstgrade zu moderaten Haftstrafen.

Die Regierung schuf mit den Freikorps ein Monster

Die Maimassaker von München sind das Schlusskapitel der deutschen Revolution 1918/19, geschrieben in Blut. Hier zeigt sich, brutaler noch als bei den Straßenkämpfen in Berlin gegen linke Aufständische und den Märzunruhen im Ruhrgebiet, welches Monster die Regierung mit den Freikorps geschaffen hat. Die SPD-Führung unter Friedrich Ebert fürchtete die Revolution, sie hatte Angst vor ihren eigenen Anhängern; und sie verhinderte systematisch Versuche der Basis, eine revolutions- und republiktreue Streitmacht aufzustellen.

Gegen die an sich nicht sehr starken Linksradikalen mobilisierte der unselige SPD-Wehrminister Gustav Noske (der sich selbst "Bluthund" nennt) rechte Freiwillige, das Strandgut des Weltkrieges, verrohte Soldaten, Offiziere ohne Perspektive. Diese Wehrpolitik war der größte Geburtsfehler der deutschen Republik.

Die Gräuelpropaganda, die in den Freikorps verbreitet ist, macht die Münchner Räte zur Inkarnation von allem, was diese Männer hassen: Juden, Rote, Demokraten, Kommunisten, politisch aktive Frauen. Solche "Flintenweiber" sollen gefangene Soldaten zu Tode gequält haben, raunen die Sieger - aus Frauenhass geborene Schauermärchen.

Die SPD tritt dem nicht entgegen, im Gegenteil erklärt ihr bayerischer Militärminister Ernst Schneppenhorst, in München herrschten "Judenbuben, landfremde Elemente und verkrachte Akademiker". Die Bolschewistenfurcht überlagert den Verstand solcher Männer.

Und wehe den Besiegten: Eine Orgie der Rache geht nieder über die Revolutionäre. Viele werden gleich exekutiert, andere zum Tod oder zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Mörder dagegen kommen, wie Gumbel dokumentiert, fast alle straflos davon - statistisch mit einem halben Jahr Gefängnis pro genommenem Leben. Daran ändert der Sturm, den sein Buch 1922 auslöst, wenig. Gumbel setzt sich 1932 wohlweislich nach Paris ab, 1940 entkommt er in die USA. Die Nazis bürgern ihn aus, weil er die Wahrheit dokumentiert hat.

"Man blickt im Geiste um sich", schreibt der Revolutionär Erich Mühsam, der bereits seit dem 13. April im Gefängnis sitzt: "lauter Tote, lauter Ermordete". Am Anfang der Münchner Revolution war es ein Rausch von Freiheit. Am Ende beherrschen psychopathische Rassisten das Bild mit ihrer in Bierschwemmen geborenen Weltsicht. Sie verwandeln München, die frühere Stadt der Bohème, sehr bald in die "Hauptstadt der Bewegung".

Die Stadt erholt sich davon nicht wieder; ihre Bürger neigen dazu, den Räten die Schuld für Chaos und Gewalt zu geben. "Es war kein Zufall", schreibt der Historiker Robert Gerwarth in dem klugen Buch "Die größte aller Revolutionen", dass "die bayerische Hauptstadt zur Geburtsstätte des Nationalsozialismus wurde".

Zu den Opfern dieser Tage zählt auch einer der führenden Köpfe der Räte, der Humanist und Pazifist Gustav Landauer. Rechtsradikale ermorden ihn in Stadelheim auf bestialische Weise. Nur wenige Wochen zuvor hatte er geschrieben: "Aber leicht möglich, dass es nur ein paar Tage sind, und dann war es ein Traum."

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