100 Jahre Räterepublik:Wilde Gerüchte

Die Propaganda der konterrevolutionären Kräfte heizt die Stimmung gefährlich auf. Die Räterepublikaner stecken in einem Dilemma. In einem, das uns heute sehr bekannt vorkommt.

Von Anna Hoben

Der Begriff "Fake News" könnte als eines der prägenden Schlagworte des frühen 21. Jahrhunderts in die Geschichtsbücher eingehen. Es ist nicht leicht, gegen Falschinformationen anzukämpfen, die sich heute über das Internet, vor allem über die sozialen Medien, rasend schnell verbreiten. Auch vor 100 Jahren waren manipulative und vorgetäuschte Nachrichten an der Tagesordnung; Übertreibungen, Verdrehungen, Lügen und Propaganda trugen einen großen Teil dazu bei, wie sich die Stimmung in der Räterepublik aufheizte, die Geschehnisse sich entwickelten.

Anfang April gehen wilde Gerüchte durch München. Erich Mühsam und Gustav Landauer erhielten Millionen Rubel aus Russland, in den Sitzungen der Räte komme es zu Orgien, die Räteregierung wisse nicht, was arbeiten heißt. Auf den Straßen wird ohne Widerspruch gegen Preußen, "landfremde Elemente", Juden, Kommunisten und das "russische Chaos" gehetzt. Dass Kommunisten eigentlich in Opposition zur ersten Räterepublik stehen, kümmert wenig. Räterepublikaner werden beschimpft, anonyme und manche nicht-anonyme Zuschriften drohen mit Mord.

In seinem Buch Räte in München schreibt Günther Gerstenberg, damals habe begonnen, was Victor Klemperer für die Nazizeit konstatiert: "Nein, die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewusstem Denken oder bewusstem Fühlen in sich aufnehmen musste. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenreichen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden."

Antisemitische Hetze kriecht überall hervor. Dahinter stehe eine "ganz Deutschland überziehende Organisation reaktionärer Verschwörer", schreibt der Revolutionär Ernst Toller, er fordert die Bevölkerung auf, "selbständig jedes dieser niederträchtigen Elemente sofort zu verhaften und der Polizei zu übergeben, damit sie vor das Revolutionsgericht gestellt werden können". Die Aufklärungsschriften der Räterepublikaner enthalten leere Drohungen, sie bleiben ohne Wirkung.

In den konterrevolutionären Schriften geht es viel um "Ehre". Die Anführer der Räterepublik seien ehrloses Gesindel: "Nieder mit der Rätediktatur!" Inwieweit solche Flugblätter Wirkung erzielten, sei schwer abzuschätzen, schreibt Gerstenberg. In den Beständen der staatlichen Archive überwiege jedoch die Anzahl der konterrevolutionären Schriften die der Räterepublikaner. Der dominierenden gegenrevolutionären Publizistik, schlussfolgert er, hätten die Räteanhänger beinahe machtlos gegenübergestanden.

Die Räterepublikaner stecken in einem Dilemma. Schweigen sie, lassen sie vermuten, dass an den Unterstellungen etwas dran sei; gehen sie auf einzelne Lügen ein und korrigieren sie, steigern sie dennoch deren Bekanntheit. Ein Dilemma, das sich auch heute beobachten lässt beim Umgang von Medien mit Rechtspopulismus.

Nach dem Putsch der regierungstreuen Truppen dominiert außerhalb Münchens die Propaganda der Konterrevolution. Der USPD-Politiker Felix Fechenbach liest am 19. April Berliner Zeitungen und notiert in sein Tagebuch: "Es ist grauenvoll, was alles über München gelogen wird. Der Bahnhof zertrümmert, die Neuhauser Straße in Flammen, Massenmorde, Vermögensbeschlagnahme und die Erklärung der Frauen des Bürgertums zum Gemeineigentum (...) Wahr ist von all diesen Nachrichten nicht ein Wort."

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