Radikaler Job-Wechsel:"Jetzt bekommen Menschen Hilfe, die sie auch wirklich brauchen"

Lesezeit: 6 Min.

Martin Bach hat sich als Seniorenbegleiter selbständig gemacht. (Foto: Florian Peljak)

Fast 40 Jahre war Martin Bach erfolgreicher Filmproduzent. Jetzt ist er hauptberuflich Seniorenbegleiter, geht mit seinen Klienten zu Bankterminen oder ins Theater. Das hat allerdings seinen Preis.

Von Laurens Prasch

Hinter Martin Bach und Anna Schneider liegt an diesem schwülen Vormittag schon ein aufreibender Besuch bei der Bank. Nun sitzen der 62-Jährige, weiße Haare, sommerliches Polo-Hemd, und die 86-Jährige in einer hellen Altbauwohnung im Münchner Stadtteil Solln, auf dem Tisch stehen Kekse. Anna Schneider (Name geändert) hat Martin Bach im November vergangenen Jahres für sich und ihren 89-jährigen, demenzkranken Ehemann als Seniorenbegleiter engagiert. Über das Dienstleistungsverhältnis sagt sie fast schon entschuldigend: "Es ist sicherlich nicht die schönste Seniorenbegleitung für ihn." Der Wahlmünchner schüttelt dazu nur lächelnd den Kopf.

Mit ihrem Ehemann teilt sich die 86-Jährige ein Gemeinschaftskonto. Nun sei es dringend notwendig, auch angesichts ihrer immer schlechter werdenden Augen, dass auch Bach die Vollmacht für das Konto erhält. Doch die Bankberaterin hat erklärt, der Ehemann müsse persönlich vorbeikommen, um das gegenzuzeichnen. Das werde ihm in seinem gegenwärtigen Zustand nicht möglich sein, "dafür brauchen wir ja auch noch einen Krankentransport", ächzt die Germanistin.

Früher war der 62-Jährige Filmproduzent. Er sagt: "Mädchen für alles". (Foto: Florian Peljak)

Und dann auch das noch, der nächste Rückschlag nach der Bank. Die Wohnungstür geht nicht auf. Sie hat den Schlüssel von innen stecken lassen. Die Seniorin setzt sich sichtlich angestrengt auf die Treppe und atmet durch, hat einen Spruch dazu parat: "Geht es erst bergab, rollt der Stein immer schneller". Schließlich schafft es ein Nachbar mit einem Kniff, die Tür aufzubekommen. Doch allein um seine Hilfe zu bitten, hat Schneider Überwindung gekostet: "Ich frag' ja so ungern um Hilfe", sagt sie. Auf die Frage, ob das für Herrn Bach auch gelte, sagt sie: "Nein, das ist ja etwas Offizielles."

Seit Sommer 2021 ist Martin Bach zertifizierter Experte und Gesellschafter in der Seniorenassistenz. Ein geschützter Beruf ist der des Seniorenassistenten nicht. Zertifiziert wurde Bach von der Help-Akademie. "Hilfe durch Experten für Lebensqualität mit Prüfung und Zertifikat", dafür steht Help, in Süddeutschland der einzige Ausbildungsanbieter für Seniorenassistenz. Der Ausbilder mit Sitz in München ist TÜV-geprüft im Rahmen des Qualitätsmanagements und hat seit 2016 über 200 Seniorenassistenten zertifiziert, sagt Akademieleiterin Ursula Mayr. Bach hat sich komplett selbständig gemacht als Seniorenassistent oder, wie er es nennt, Seniorenbegleiter.

Nach dem erfolgreichen Öffnen der Wohnungstür in Solln erzählt Bach am Esstisch, wie er zu der Entscheidung kam, sich zertifizieren zu lassen - und damit beruflich umzusatteln, mit 60 Jahren. Denn fast 40 Jahre war er in wechselnden Positionen für Film- und Fernsehen tätig, von 2005 an als selbständiger Produzent. So richtig zufrieden sei er in und mit der Filmindustrie schon länger nicht mehr gewesen. Die ohnehin schon schwierige Auftragslage sei dann mit Covid einer "Vollbremsung" gleichgekommen. Neben dem wirtschaftlichen Aspekt habe es aber auch noch eine emotionale Initialzündung gegeben, setzt er hinzu.

Seine Tante, die sich hingebungsvoll um ihren pflegebedürftigen und an Krebs erkrankten Mann gekümmert hat, ist zu Beginn der Pandemie an einer Autoimmunerkrankung erkrankt. Am Ende hätte ihr auch die Lust am Leben gefehlt. Nach einem Krankenhausaufenthalt habe auf sie "zu Hause nichts mehr gewartet". Keine Gespräche, kaum Unterstützung im Alltag - ihr Neffe sieht darin nun einen Sinn für sich.

Dieses Sinn-Gefühl sei ihm als Filmproduzent irgendwann abhandengekommen, "da helfen auch die Auszeichnungen nicht". Unter anderem hat Martin Bach den Deutschen Fernsehpreis 2001 und einen Grimme-Preis 2002 für den Film "Romeo" erhalten. Einer seiner bekanntesten Filme als Produzent ist "In Sachen Kaminski". Als letzten Preis erhielt er 2013 den Deutschen Filmpreis Lola in Gold für "Kaddisch für einen Freund", der erste komplett selbst produzierte Film des Wahlmünchners.

Die Bundesagentur für Arbeit schreibt zum Beruf des Filmproduzenten unter anderem: "Im Bereich Produktion erledigen sie vor allem betriebswirtschaftliche Aufgaben wie Kalkulation, Mittelbeschaffung, Buchhaltung und Budgetverwaltung. Sie überwachen die Dreharbeiten und die Postproduktion." Bach selbst sagt knapp, er sei das "Mädchen für alles" gewesen. Dabei waren moderative Fähigkeiten und Empathie gefragt, Fähigkeiten, auf die es nun auch in der Seniorenbegleitung ankomme, findet er.

Bei einem demenzkranken Klienten im Pflegeheim. (Foto: Florian Peljak/Florian Peljak)

In der Filmindustrie sei es oft um Befindlichkeiten gegangen, etwa darum, am Set "den größten Wohnwagen für einen Darsteller" zu organisieren. Jetzt bekommen Menschen von ihm Hilfe, "die diese auch wirklich brauchen", sagt Bach. Er legt Wert auf die Unterscheidung zwischen Senioren-Assistenz und -Begleitung. Auf seiner Website hat er die verschiedenen Tätigkeiten, die er anbietet, aufgelistet. Unter Begleitung im Alltag heißt es unter anderem: "ratschen, weinen, zuhören". Beim Treffen drückt er es so aus: "die Menschen nicht allein lassen". Auch gemeinsame Aktivitäten wie Kino oder Theater bietet er an, was ihn auch am meisten erfülle. Er wünsche sich eigentlich, dass der Kontakt oft viel früher stattfindet, dann könne über Jahre ein Vertrauensverhältnis "auf Augenhöhe" wachsen. Nach dem Motto: erst der gemeinsame Gang ins Theater und dann, wenn nötig, der gemeinsame Gang zu Behörden oder Pflegeeinrichtungen. Denn das biete er auch an, wie bei Anna Schneider.

Nicht in seinem Angebot: Pflege, "weil ich es nicht darf", Handwerkerdienste, "weil ich es nicht kann", und Putzen, "weil ich es nicht mag", schreibt der Seniorenbegleiter auf seiner Website. Was er darf und nicht darf, hat er bei der Help-Akademie gelernt. Mittlerweile kostet das Zertifikat, das Bach damals noch etwas günstiger erworben hat, 23 00 Euro für 148 Stunden Ausbildungszeit, sagt Akademieleiterin Mayr. Bach verlangt derzeit einen Stundensatz von 60 Euro, Zusatzkosten wie Benzingeld, Nebenkosten und Extras für Begleitung am Wochenende können das noch nach oben treiben. Er räumt ein, unter den teuersten Begleitern zu sein.

Damit mag er vor allem für eine zahlungskräftige Zielgruppe interessant sein, sagt Renate Volk, eine der zwei Leiterinnen der gemeinnützigen Organisation Tatendrang. Tatendrang koordiniert freiwilliges Engagement in München, finanziell unterstützt vom Sozialreferat der Stadt. Seniorinnen und Senioren, die unter anderem Begleitung im Alltag suchen, wenden sich an die Organisation, die dann mit Einrichtungen wie den Alten- und Service-Zentren (ASZ) in Kontakt tritt, um Ehrenamtliche zu vermitteln. Die Alten- und Service-Zentren - 33 sind es in den verschiedenen Stadtteilen - bieten Beratung und konkrete Hilfen für ältere Menschen und deren Angehörige. Anders als Bach kämen Ehrenamtliche aber nur einmal in der Woche vorbei, räumt Volk ein. Grundsätzlich sei der Bedarf hoch. Vor allem das Thema Einsamkeit betreffe viele ältere Menschen, weiß sie. Tatendrang versuche, sie "aus ihrem Schneckenhaus" zu holen.

Das Münchner Bildungswerk, ein gemeinnütziger katholischer Träger, bietet schon seit Längerem einen Grundkurs für Seniorenbegleitung an, mit einer Gebühr zwischen 70 und 140 Euro. Für die Begleitung dann bekommen die Haupt- und Ehrenamtlichen eine Aufwandsentschädigung.

Einmal hat Bach bei einem Ersttermin mit einem demenzkranken Mann Uno gespielt. Die Frau meinte: Na ja, das könne sie ja auch machen, ganz ohne Geld zu bezahlen. Mit einer Abfuhr habe er kein Problem, versichert Bach. Er biete seine Hilfe eben zu seinen Konditionen an, als Selbständiger könne er nicht viel günstiger sein.

Eine 40- bis 60-Stunden-Woche, wie zu Zeiten als Produzent, will er einfach nicht mehr stemmen. So bleibt mehr Zeit fürs Private, für seine Frau Sigrid und den Hund Gustl. Gerade sei er nicht vollständig ausgelastet und komme auf 15 bis 20 Stunden die Woche: "Jetzt kann ich mir mehr Zeit für eine Sache nehmen", sagt Bach. Wie die aktuell sehr enge Betreuung von Anna Schneider, für die er auch eine Patientenverfügung erhalten soll. Fünf Jahre hat die Seniorin ihren immer stärker dement werdenden Ehemann zu Hause betreut, dann ist sie zu der Erkenntnis gekommen: "Wenn ich ausfalle, dann ist das ein Totalausfall." Martin Bach hat dann, nach recht kurzer Beschnupperungszeit, die Aufnahme des Mannes in Pflegeheim mit organisiert und ist seither auch im Heim ein wichtiger Ansprechpartner.

Immer im Rucksack dabei bei Bachs Einsätzen: Ein Blutdruckmessdruckgerät, das Beobachtungs- und Reaktionsspiel Dobble und Snacks. (Foto: Florian Peljak)

In der Zeit ohne Seniorenbegleiter habe Anna Schneider sich immer mit ihrem Bruder beraten müssen. Jetzt, wo Bach einige Aufgaben übernimmt, könne sie mit ihrem Bruder wieder einfach "schwätzen". Die durch die Seniorenbegleitung gewonnenen Freiheiten wüssten die Angehörigen zu schätzen, sagt Help-Akademieleiterin Mayr: "Die Angehörigen sind manchmal so glücklich, dass Mama und Papa in guten Händen sind, wenn sie selbst zu weit weg sind oder keine Zeit haben." Oft seien die Angehörigen total gestresst gewesen und von einem schlechten Gewissen geplagt: "Wenn ein Senioren-Assistent im Boot ist, kann man tatsächlich mit der Mutter mal einen Kaffee trinken. Man muss nicht rumrennen und irgendwelche Dinge erledigen."

Seniorenbegleiter Bach bietet beides: Zeit für einen Plausch und, wie Anna Schneider es nennt, das "Rumärgern" mit Dokumenten. Eine demenzkranke Klientin habe ihm anvertraut: "Du bist jetzt mein zweites Ich". Und eine andere, mittlerweile verstorbene Klientin habe einmal zu ihm gesagt: "Du bist ein Engel mit Bart und grauen Haaren." In 40 Jahren Filmindustrie sei ihm so ein Zuspruch nicht untergekommen, sagt Bach mit einem Lächeln.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusJunge Menschen und das Ehrenamt
:Wird jungen Menschen nicht Faulheit nachgesagt?

Sie spielen Klavier im Hospiz, organisieren Freizeiten für Menschen mit Behinderung, engagieren sich in der Flüchtlingshilfe: drei junge Menschen im Porträt, die sich engagieren, ohne etwas im Gegenzug zu erwarten.

Von Nicole Salowa

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: