Süddeutsche Zeitung

Radfahren in München:Wie ein vernünftiger Mensch zum rabiaten Kampfradler wird

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Manch einer glaubt an die menschheitsrettende Mission des Fahrrads und fährt ohne Rücksicht auf Verluste durch München.

Kolumne von Wolfgang Görl

An sich ist Mike ja ein netter Mensch, ein alter Kumpel, der auch nach drei Mass Bier noch in der Lage wäre, einem die Einstein'sche Relativitätstheorie zu erklären, wäre man selbst in der Lage, sie zu verstehen. Genauso gut kann er über Musik plaudern - er bevorzugt Rachmaninow und japanischen Punkrock - und über die Abgründe der Liebe sowieso.

Nur ein Thema sollte man meiden, da tickt er vollkommen aus: das Radfahren. Mike einen leidenschaftlichen Radler zu nennen, wäre hoffnungslos untertrieben. Er ist ein Missionar des Radelns, ein Hohepriester des Drahtesels, ein Strampeltaliban. Normalmenschen, die aufs Rad steigen, um etwa vom Stachus zum Pasinger Marienplatz zu gelangen, duldet er zwar, im Grunde aber hält er sie für Ignoranten, die das Mysterium des Radelns nicht begriffen haben.

Für Mike ist das Rad viel mehr als ein Verkehrsmittel. Es ist ein metaphysisches Wesen, an dem die Welt genesen soll, und damit es seine Wirkung entfaltet, braucht es nicht viel mehr als Muskelkraft und eine Luftpumpe. Mike glaubt an die menschheitsrettende Mission des Fahrrads, so wie andere daran glauben, eines Tages werde die Menschheit durch Harry Potter vor den dunklen Mächten gerettet.

Entsprechend ist der Fahrstil, den sich Mike angewöhnt hat. Wo Fußgänger schreiend beiseite hechten, wo aus dem Weg gerempelte Radler aufs Trottoir stürzen und Autobremsen quietschen, ist Mike nicht fern. Er fegt durch die Stadt, so wie die Kreuzritter einst durchs Heilige Land fegten: Unheil bringend, aber mit gutem Gewissen. Schließlich weiß Mike, dass seine Strampelei ökologisch wertvoll ist.

Sein Bike, ein Karbonrenner mit eingebauter Vorfahrt, dient nur vordergründig der Fortbewegung - tatsächlich ist es ein aus Sattel, Rohren und Zahnrädern zusammengeschraubtes Zeichen, dass hier ein Edler im Dienste einer besseren Welt die Reihen der Sünder lichtet. Wenn er damit losbrettert, geschieht ein Wunder: Dann gleicht Mike seinem größten Feind, dem deutschen Autofahrer. "Der Deutsche fährt nicht wie andere Menschen", hat Kurt Tucholsky einmal geschrieben. "Er fährt, um recht zu haben." Und genauso fährt Mike Rad.

Doch kaum im Biergarten angekommen, ist er wieder ein netter Mensch. Man kann mit ihm über Einstein, Rachmaninow, japanischen Punk und die Liebe palavern, und wenn es heimwärts geht, radelt man am besten hinter ihm her. Die Wege sind da wie leergefegt.

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Quelle:
SZ vom 29.08.2018
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