Süddeutsche Zeitung

Geschichte:Fräulein sucht Briefwechsel mit Freundin

Queere Netzwerke und Kultur gab es schon in der Weimarer Republik bis zum grausamen Bruch 1933. Das NS-Dokumentationszentrum zeichnet dies in der Ausstellung "To be seen. Queer Lives 1900-1950" berührend und kämpferisch nach.

Von Greta Hüllmann, München

Schiebermütze, Krawatte und ein weißes Hemd. Die Kleidung, die Gerd Katter auf der kleinen schwarz-weiß Fotografie trägt, ist das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Kampfes. Katter wurde 1910 als Mädchen namens Eva in Berlin geboren. 1926 besuchte er das berühmte Institut für Sexualwissenschaft, das unter der Leitung von Magnus Hirschfeld als Zentrum für medizinische Beratung, Unterstützung und Vernetzung von queeren Menschen diente. Katters Ziel war simpel: Er wollte keine verhassten Kleider und Röcke mehr tragen, sondern als Mann in Hosen leben. In der Weimarer Republik war dies nach Artikel 183 verboten, doch Hirschfeld und die erblühende queere Szene fanden Wege. Katter schrieb eine Begründung ("Niemand zweifelt daran, dass ich ein Junge bin"), Hirschfeld stellte ein Gutachten aus, und die Polizei händigte Katter einen sogenannten Transvestitenpass aus, der ihn bei Kontrollen als rechtmäßig gekleidet auswies. Er starb 1995 als betagter Mann.

Katters Leben ist eines von vielen, in das die Ausstellung einen Blick wirft: "To be seen. Queer Lives 1900-1950" im NS-Dokumentationszentrum. In Verbindung von historischen Zeugnissen und zeitgenössischer Kunst erzählt "To be seen" die Geschichte von LGBTQIA+, ihre Kämpfe um Sichtbarkeit und Rechte und ihre Rolle in Kultur und Gesellschaft von der Jahrhundertwende bis in die Nachkriegszeit. "Die Geschichte einzelner Opfergruppen kommt in den Dauerausstellungen zu kurz", sagt Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums. "Die Ausstellung soll die sichtbare Vielfalt bis 1933 zeigen und nicht nur eine Verfolgungsgeschichte erzählen."

Die Verfolgten seien einmal Teil der Gesellschaft gewesen - als zentrale Figuren und nicht nur als Mitglieder der Subkultur, beschreibt Zadoff. Die Ausstellung beginnt mit dem Thema Selbstermächtigung, deren bunt-changierende Panel bilden einen spannenden Kontrast zum grauen Beton des Gebäudes. Queere Persönlichkeiten wie die Juristin und Frauenrechtlerin Anita Augspurg, die das Münchner Atelier Elvira mit ihrer Partnerin gründete, oder August Fleischmann, der die Münchner Schwulenbewegung eklatant vorantrieb, werden anhand von historischen Dokumenten und Fotos vorgestellt. Die Bilder, die oft noch vor 1900 entstanden, wirken uralt und zugleich erfrischend neu, als könnten sie sich nicht entscheiden, wie die vermeintlich moderne Queerness zum wilhelminischen Schnäuzer und Uhrenkettchen passen soll.

Im gesamten Stockwerk stehen dicht an dicht Infotafeln, laufen Videos und hängen Fotos: Queere Geschichte lässt sich schwerlich auf den vorgegebenen Platz quetschen, vor allem von den goldenen, oder besser queeren, Zwanzigerjahren an. "Es gab eine neue Sichtbarkeit und ein Selbstbewusstsein der queeren Szene, die auch den Mainstream beeinflusste", erklärt Mirjam Zadoff. "Menschen entschieden selbst, wie sie leben wollten." Dazu gehörten beispielsweise Gerd Katter oder auch Lili Elbe, deren frühe Geschlechtsumwandlung durch den Film "The Danish Girl" berühmt wurde.

Clubs, Varietés und Bühnen wurden erobert, vor allem das Berlin der Zwanzigerjahre bot Raum für das Spiel mit Kleidung, Ästhetik, Geschlecht und Anziehung. Bobfrisuren bei Frauen, die berühmte Marlene-Dietrich-Hose, all das waren rebellisch-queere Trends, die einen enormen Sog entfalteten. "Hier wurde der Grundstein für queere Ästhetik gesetzt, und Netzwerke bildeten sich", sagt die Kuratorin der Ausstellung Karolina Kühn. So viel Freiheit, wie sich LGBTQIA-Menschen auch erkämpft hatten, die Verfassung der Weimarer Republik blieb streng. Artikel 175 drohte bei "widernatürlicher Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts" mit dem Gefängnis und Verlust der bürgerlichen Rechte. Lesbische Liebe blieb übrigens unbenannt, was freilich nicht die Freiheit für queere Frauen, sondern mangelnde Gleichberechtigung betont.

Die diskriminierenden Gesetze zwangen queere Menschen zum Kodieren. Chiffren, Handzeichen oder Accessoires ließen Kundige einander erkennen. "Fräulein sucht Briefwechsel mit Freundin", oder "Gebildete Dame, 37, ledig, berufstätig, sympathische Erscheinung, sucht Herzensfreundin, im wahrsten Sinne" sind echte chiffrierte Zeitungsannoncen der Zeit.

Modern, doch im direkten Kontakt mit den Ausstellungsstücken, sind die Werke der zeitgenössischen internationalen Künstler und Künstlerinnen, die sich mit der queeren Vergangenheit und Sichtbarkeit auseinandersetzen. Das gestickte Webstück von Lena Rosa Händle zeigt die eben erwähnten Zeitungsannoncen der Zwanzigerjahre. Im Treppenhaus schweben Collagen der renommierten amerikanischen Künstlerin Zackary Drucker, die Bilder der Ausstellung mit ihrem privaten Fundus vermengen. Die künstlerischen Interventionen tun tatsächlich, was ihr Name verspricht, sie halten auf und lassen sich nicht aufhalten. Während "To be seen" das erste Stockwerk bewohnt, ploppen die neuen Werke vom Keller bis zum sechsten Stock immer wieder auf. "Queer Lives" sind hier selbstverständlich Teil aller "Lives", womit das Dokumentationszentrum eine politische Botschaft sendet, die nicht oft genug gehört werden kann.

Die Verbindung zur Dauerausstellung zeigt natürlich auch den schmerzhaften Bruch. Die NS-Diktatur, die queere Menschen in Scheinehen, ins Exil, in den Untergrund oder Tod zwang, beendete die Netzwerke, Errungenschaften und moderne Sexualforschung jäh. Und es sind doch Menschen wie Gerd Katter, die ein langes und hoffentlich glückliches Leben führen konnten, die Mut machen. Die Menschen hierzulande waren schließlich vor 100 Jahren schon einmal so weit.

"To be seen. Queer Lives 1900-1950", 7.10.22-21.5.23, Di-So, 10-19 Uhr, NS-Dokumentationszentrum, Max-Mannheimer Platz 1

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