Süddeutsche Zeitung

Zwischen Welten:Das schlechte Gewissen feiert mit

Während unsere ukrainische Kolumnistin mit ihrer Tochter in Pullach Halloween feierte, fragte sie sich: Darf sie das, während ihre Landsleute in Kiew wieder im Bunker sitzen, weil die Stadt erneut unter Beschuss steht?

Von Emiliia Dieniezhna

Als wir noch in der Ukraine lebten, organisierte ich für meine Tochter Ewa viele tolle Kinderpartys. Zum Beispiel zu Halloween, ihrem Lieblingsfest. Wir haben alle ihre Freunde eingeladen und zusammen gefeiert. In diesem Jahr verbrachten wir Halloween mit unseren neuen Freunden in Pullach. Wir haben uns kostümiert, sind von Haus zu Haus gelaufen und haben "Süßes oder Saures" gespielt. Das war wirklich lustig, aber ich habe oft daran gedacht, wie unsere Freunde in der Ukraine Halloween verbringen.

Ewa und ich hatten geplant, an diesem Tag mit einer ihrer Freundinnen zu telefonieren. Deren Mama konnte ich aber nicht in den sozialen Medien entdecken. Erst spät am Abend hat sie geschrieben, dass die Familie wegen der vielen Bombenangriffe den ganzen Tag im Bunker verbringen musste. Ohne Licht, ohne Strom und ohne Internet sowieso. Natürlich war an Halloween nicht zu denken. Es tat mir sehr leid, dass so viele Kinder in der Ukraine nicht feiern konnten, während wir einen ausgelassenen Tag verbringen durften. In solchen Situationen überkommt mich immer wieder das Gefühl, dass es nicht richtig ist, Spaß zu haben, während meine Landsleute in der Ukraine so sehr leiden.

Diese Schuldgefühle begleiten mich ständig. Das hat in den letzten Wochen noch zugenommen, weil ich von Ukrainern wie auch von Deutschen immer wieder zu hören bekam, dass es inzwischen doch in Kiew wieder ziemlich sicher ist und wir eigentlich nach Hause zurückkehren könnten. Ich hatte allerdings immer die Befürchtung, dass Russland die Stadt über kurz oder lang erneut angreifen wird. So ist es nun leider gekommen. Das bedeutet, ich bin in Angst um meinen Mann, seinen Bruder, meine Verwandten und meine Freunde, die in der Ukraine geblieben oder dorthin zurückgekehrt sind.

Ich denke oft daran, dass sie morgens mit dem Lärm der Sirenen aufstehen. Dass sie in kalten Häusern oder Wohnungen leben, dass sie Strom und Licht meist nur ein paar Stunden am Tag haben. Mein Mann hat erzählt, dass seine Firma nur wenige Stunden pro Tag Strom hat. Diese Zeiten passen aber nicht zusammen mit der Zeit, in der ihr Wlan-Provider Strom hat. Arbeiten ist eigentlich unmöglich.

Ich denke auch viel an die Kinder, die im Bunker sitzen, statt die Schule oder den Kindergarten zu besuchen. Ich meine, dass es keinen einzigen Grund gibt, weshalb im 21. Jahrhundert Kinder im Herzen Europas (und natürlich nirgends auf der Welt) so etwas erleben müssen. Dass meiner Tochter das erspart bleibt, dafür habe ich alles mir Mögliche unternommen. Aber ich fühle mich schlecht, weil die anderen Kinder in Gefahr sind.

Die Kinder der Ukraine begingen also Halloween wie im Mittelalter, ohne Strom, Licht und Wlan. Und trotzdem bleibt mein Volk stark und frei. In meiner Heimat sprechen die Menschen es unserem Präsidenten nach: "Russland, ohne Licht oder ohne euch? Ohne euch. Ohne Strom oder ohne euch? Ohne euch. Ohne Gas oder ohne euch? Ohne euch."

Emiliia Dieniezhna, 34, flüchtete mit ihrer vierjährigen Tochter Ewa aus Kiew nach Pullach bei München. Von dort aus arbeitet sie ehrenamtlich für die Nicht-Regierungs-Organisation NAKO, deren Ziel es ist, Korruption in der Ukraine zu bekämpfen. Außerdem unterrichtet sie ukrainische Flüchtlingskinder in Deutsch. Für die SZ schreibt sie einmal wöchentlich eine Kolumne über ihren Blick von München aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat.

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