An einem sonnigen Junitag betritt Karl Wagner mit seiner Frau Gudrun einen kühlen Raum im Souterrain des Herz-Jesu-Kloster im Zentrum Münchens. Er ahnt nicht, dass eine kurze Begegnung an diesem Ort sein ganzes nächstes Jahr bestimmen wird. Ein Jahr, in dem Karl Wagner viel telefonieren, viel in seinem Gedächtnis kramen und letztendlich in den Keller gehen wird, um einen alten Aktenordner zu holen. Und an dessen Ende ein Wiedersehen steht, das es ohne Karl Wagner nie gegeben hätte.
"Bist Du der Wagner Karl?", hört Wagner eine Stimme hinter sich. Er dreht sich um, sieht einen Mann, etwa sein Alter, bejaht. Dann beginnt der Vortrag über die Geschichte des Klosters, zu dem auch ein Kindergarten gehört, den Karl Wagner als kleiner Bub besuchte. Später, denkt er sich, spricht er den Mann an. Dieser bekommt aber einen Hustenanfall und verschwindet.
Von diesem Moment an beginnt es in Karl Wagner zu rumoren. Wochenlang versucht er sich an den Namen zu erinnern. War es Weidner? Willner? Nein. An einem Freitagmorgen fällt er ihm schließlich ein: der Widner Jakob. Mit dem war er doch damals auf der Blumenschule.
Auf einem Klassenfoto vom Frühjahr 1949 blicken 40 Kinder in die Kamera. Manche sitzen, manche stehen, die meisten mit ernster Miene, einige etwas freundlicher, nur einer grinst: Karl Wagner in der ersten Reihe. Das linke Ohr steht etwas ab, ein Tuch um den Hals gebunden, ordentlich gekleidet für den Termin mit dem Fotografen.
Nachdem Karl Wagner seinen alten Mitschüler Widner gefunden hatte, stand für ihn fest: Die alte Klasse soll zusammenkommen. Ein Klassentreffen, das erste nach 66 Jahren.
Von da an beginnt die Suche. Karl Wagner ruft im Stadtschulamt an, ohne Erfolg. Er wälzt Telefonbücher und schaut das alte Klassenfoto so lange an, bis einige der Namen in sein Gedächtnis zurückkehren. Er holt einen Ordner aus dem Keller hervor, in dem er einen Artikel der Süddeutschen Zeitung aufbewahrt. Im Januar 1951 besuchte ein Reporter die siebte Klasse der Volksschule. Der Original-Artikel, etwas angegilbt, klebt jetzt auf einem weißen Blatt, gut verpackt in Klarsichtfolie.
Ein Schüler bekomme mittags nur Kaffee und Brot, steht darin. Ein anderer bewohne mit seiner Mutter und seinen vier Geschwistern ein einziges Zimmer. Und drei der Kinder hätten keinen Wintermantel. Ein Bericht über die Armut der Nachkriegsgeneration in München.
Für Karl Wagner ist dieser Artikel ein wichtiges Dokument. Ein Hilfsmittel bei seiner Recherche. Siegfried wird darin genannt, Michael, Dieter, Thomas und der Jackl. "Das ist der Jackl", sagt Wagner und deutet auf einen blonden Jungen neben ihm. "Der hat sich damals das Bett mit seinem Bruder geteilt, so arm war er. So steht es auch in der Zeitung." Mittlerweile ist Jackl gestorben.
"Die lebt noch, die ist gestorben, der kommt, der ist in die Schweiz ausgewandert und die nach Kanada, den konnte ich nicht ausfindig machen", sagt Wagner. Er geht die Reihe durch und deutet mit seinem Finger auf die einzelnen Gesichter.
Wagner ist ein kleiner Mann mit einem großen Gedächtnis und einem großen persönlichen Archiv. Der Wohnzimmerschrank seiner Wohnung in Puchheim ist voll mit Fotoalben: von seiner Kindheit, seiner Jugend, seiner Familie. Im Keller stapeln sich die Ordner voll mit Zeitungsartikeln zu den Themen, die ihn interessieren: München und Bayern, Politik, Wahlergebnisse.
Nach einem halben Jahr Suche findet Karl Wagner, der heute 80 Jahre alt ist, sechs ehemalige Blumenschule-Schüler seines Jahrgangs. Eine Freundin von Karl Wagner hat die Schülerinnen kontaktiert, insgesamt 15. "Die Reaktionen am Telefon waren freudig", sagt Wagner. Auch wenn es meist einen Moment brauchte, bis die alten Kameraden Vertrauen gefasst hätten und sie sich sicher waren, dass es sich nicht um irgendeinen Trick handelte.
Ende Mai verschickt die Freundin die Einladungen per Post: "Nachdem der Wagner Karl die Buben und ich die Mädels ausfindig gemacht haben, steht unserem Klassentreffen nichts mehr im Weg."
Insgesamt 15 ehemalige Schülerinnen und Schüler haben zugesagt. Treffpunkt ist ein Traditionsgasthaus im Zentrum Münchens mit guter S-Bahn-Anbindung, damit so viele wie möglich kommen können.
Karl Wagner freut sich auf das Treffen: "Es ist ja interessant zu erfahren, was in all den Jahren bei den einzelnen geschehen ist, was sie beruflich gemacht und wie viele Enkelkinder sie heute haben." Er selbst wurde Beamter, heiratete, bekam zwei Kinder und zwei Enkel.
Seine Suche hat Karl Wagner fein säuberlich dokumentiert und abgeheftet. Eine Liste mit allen Namen und Telefonnummern ist dabei, das Klassenfoto im Original und zwei Kopien, der SZ-Artikel, die Einladung und ausgedruckte Namensschilder. "Mal schauen, wer dann wirklich kommt", sagt Wagner.
Es gebe ein Lied über ein Klassentreffen, erzählt Wagner, mit der Zeile: "Am Ende war ich ganz allein!" Er lacht. "Hoffentlich sitze ich nicht alleine da!". Das sicher nicht. Aber Jahrzehnte bis zur nächsten Zusammenkunft sollten nicht noch einmal vergehen. Besser ein Treffen gleich nächstes Jahr.