Public Viewing beim Ärztekongress:Heute im Fernsehen: Herzschmerz

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Per Satellit werden Herz-Eingriffe in das Auditorium der BMW-Welt übertragen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Für Mediziner ist ein Ärztekongress eine Fortbildung, für Laien oft rätselhaft. Doch dieses mal gibt es erstmals eine Übertragungen in 3D: Während in Hamburg eine Herzklappe eingesetzt wird, schauen in München 800 Mediziner zu - und finden das aufregend.

Von Stephan Handel

"Das ist jetzt nicht mehr so aufregend", sagt der Arzt, was sein Patient wahrscheinlich anders sieht: Immerhin führen mehrere Drähte von seiner Leiste bis zu seinem Herzen, fünf Menschen in grünen Kitteln, grünen Hauben und mit grünem Mundschutz stehen um ihn herum; sie haben ihm mithilfe der Drähte gerade eine künstliche Herzklappe eingesetzt. Und als sei das nicht schon aufregend genug, wird alles auch noch im Fernsehen übertragen. Live.

Der Patient, ein 88 Jahre alter Mann, liegt an diesem Donnerstagvormittag im Herzzentrum der Hamburger Uni-Klinik. Gut 600 Kilometer weiter südlich, nämlich am Georg-Brauchle-Ring, sitzen 800 Menschen im Saal der BMW-Welt und schauen zu, wie dem Mann geholfen wird: Per Satellit werden die Bilder aus Hamburg nach München übertragen, wo sie zur Weiterbildung der Teilnehmer des Kongresses "p-c-i-live" beitragen sollen.

Praktisch, innovativ, interaktiv

Die Buchstabenkombination steht für praktisch, kooperativ und interaktiv, was das Wesen des Kongresses aber nur unzulänglich beschreibt. Ärzte-Kongresse bestehen normalerweise aus einer Vielzahl aufeinanderfolgender Powerpoint-Präsentationen mit anschließendem Abendprogramm. "p-c-i" hingegen, zum sechsten Mal in München, gibt den Teilnehmern die Gelegenheit, ihren Kollegen bei der Arbeit zuzuschauen, indem die Bilder aus dem Operationssaal, aus dem Herzkatheter-Labor direkt ins Auditorium übertragen werden, Public Viewing für Herzchirurgen und Kardiologen, sozusagen.

Gemeinsames Fernsehen kann die Leute zusammenbringen - das scheint im Fall der Chirurgen und der Herz-Ärzte auch dringend nötig zu sein. Seit letztere angefangen haben, immer mehr Eingriffe minimal-invasiv durchzuführen, also eben mit Kathetern, fühlen sich erstere oft zurückgesetzt. So gespenstisch das Herumhantieren am schlagenden Herzen mit Drähten und Haken auch erscheinen mag, vielen Patienten erscheint es doch noch annehmbarer als die Vorstellung, am offenen Herzen operiert zu werden; in den meisten Fällen ist die Katheter-Methode zudem deutlich risikoärmer.

Herz-OP wie bei James Cameron

Kongresspräsident Sigmund Silber plädiert für eine Kooperation der beiden Disziplinen, um so die für den jeweiligen Patienten beste Behandlung herauszufinden - verweist aber auch gleich auf eine große Schwierigkeit, das Geld: "Beim Katheter-Eingriff muss auch der Chirurg Geld bekommen, bei der Operation muss der Kardiologe mitverdienen."

Es sollen also interdisziplinäre "Heart-Teams" gegründet werden. Ein solches hat sich soeben auf der Leinwand live aus Hamburg vorgestellt, der Kardiologe Patrick Diemert und der Herzchirurg Hendrik Treede, die gemeinsam "Wir sind die Tavi-Brothers" in die Kamera schmettern. Der Grund für diesen ganz und gar unwissenschaftlichen Ausbruch an guter Laune findet sich auf den Nasen der beiden Ärzte - und auf denen der Zuschauer in München: schwarze Brillen, Modell Dobrindt.

Zum ersten Mal nämlich wird ein solcher Eingriff nicht nur übertragen, sondern sogar in 3D, als wär's ein Film von James Cameron. Diese Brillen haben die beiden Ärzte an die Blues Brothers erinnert, deren Namen sie verballhornt haben - angelehnt an den Eingriff, den sie gleich vorführen werden: Tavi, Abkürzung des englischen Fachbegriffs, bezeichnet die Implantation einer Aortenklappe mittels eines Katheters, wozu Diemert nun überleitet, indem er raumstationsmäßig meldet, die ganze Mannschaft sei "steril am Tisch".

Um ehrlich zu sein: Die Dreidimensionalität wird nicht bis in die letzten dramaturgischen Möglichkeiten hinein ausgeschöpft. In erster Linie sieht man ein paar Menschen um einen Operationstisch stehen, und dass der eine weiter vorne steht als die anderen, steigert den Erkenntniswert nur unwesentlich. Das eigentlich Interessante bleibt brav zweidimensional: wie sich der Draht des Katheters in der Herzkammer nach vorne schiebt, wie das Gitter der künstliche Klappe sichtbar wird, wie dann ein kleiner Ballon aufgeblasen wird, der die Klappe zur Entfaltung bringt, das sind Röntgenbilder, und denen fehlt nach wie vor die Räumlichkeit. Was da tatsächlich jeweils passiert, kann der Laie nur erahnen, und die Erklärungen der Ärzte tragen auch nur bedingt zum besseren Verständnis bei: "Ich anguliere noch etwas nach."

Die Experten, um nicht zu sagen: die Connaisseure im Publikum sehen das ganze natürlich mit anderen Augen, sie diskutieren die Vorzüge der soeben verwendeten Herzklappe namens Sapien 3 gegenüber ihrer Vorgängerin, der Sapien XT, mit der gleichen Inbrunst wie die Halbwüchsigen draußen in der BMW-Welt die Unterschiede zwischen altem und neuem Dreier.

Herzklappe sieht "sehr schön aus"

Das alles geschieht natürlich in der Sprache der Eingeweihten, die erstaunlich viel Englisch beinhaltet, rapid pacing, "jetzt flart sie gerade", so weit, so unverständlich. Immerhin das lässt sich lernen: Wenn bei einem Eingriff am Herzen etwas nicht ganz so läuft wie geplant, dann sagt der Arzt nicht "Scheiße", sondern: "Wir haben jetzt ein bisschen Excitement."

Es ist dann doch nur eine kleine Aufregung, nichts Dramatisches, und als die künstliche Klappe an der für sie vorgesehenen Stelle sitzt, kann Thomas Walthers, der an diesem Vormittag dem Podium vorsteht, feststellen: "Es sieht sehr schön aus." Das muss wohl richtig sein, dem zustimmenden Gemurmel nach zu schließen. Was aber an einer eingesetzten künstlichen Herzklappe schön sein soll, das kann wahrscheinlich nur beurteilen, wer schon einmal eine unschön eingesetzte gesehen hat.

Sowieso richtet sich der p-c-i-Kongress an Fachpersonal, und auch hier in erster Linie an "High-Performer", wie Christian Hengstenberg vom Deutschen Herzzentrum München sagt: Man lerne hier nicht so sehr die Techniken, die können die Leute hier schon (und wahrscheinlich würde sich auch kein Patient gerne von einem Arzt behandeln lassen, der sagt, er habe das alles am Monitor gelernt). Vielmehr, sagt Hengstenberg, könne man sich kleine Kniffe abschauen und auch Strategien, wie man reagieren könne, wenn mal etwas nicht plangemäß läuft, im Falle von Excitement also. Bei der soeben übertragenen Intervention durften eben die beiden Hamburger Tavi-Brothers die Sapien 3 präsentieren, weil sie mit dieser vertraut sind - 100 Eingriffe, so schätzt Patrick Diemert, brauche man schon bis zur völligen Beherrschung des Geräts.

498 Euro an zwei Tagen

Auf die unvorhergesehenen Situationen setzt auch Ulf Tomaschek, der mit seiner Firma Doctrina Med den Kongress veranstaltet: "Daraus ergibt sich der Weiterbildungseffekt." Tomaschek legt Wert darauf, dass im Foyer vor dem Saal natürlich zahlreiche Medizinfirmen ihre Produkte präsentieren - dass aber diese Sponsoren keinerlei Einfluss auf die Programmgestaltung hätten. Vielmehr seien es die Kliniken, die ihre Techniken präsentieren möchten; in seinem sechsten Jahr hat der Kongress jedenfalls keine Probleme, sein Programm zu füllen und den Teilnehmer für ihre 498 Euro an zwei Tagen auch etwas zu bieten.

Wenn Ärzte unter sich sind, dann reden sie mit der gleichen Schnodderigkeit über ihre Patienten, mit der Schauspieler über ihr Publikum reden, Rechtsanwälte über ihre Mandanten oder Journalisten über ihre Leser. Gelegentlich schleicht sich aber sogar in dieses scheinbare Unbeteiligtsein ein bisschen Rührung ein: Aus Zürich ist Frau Müller zugeschaltet, sie hat vor kurzem eine kleine, elektrisch betriebene Pumpe eingesetzt bekommen, die ihr Herz unterstützt, genannt "ventricular assist device". Ja, sagt Frau Müller, sie habe ja jetzt diesen Assistenten, und sei auch ganz zufrieden, noch zufriedener aber sei sie mit ihrem zweiten Assistenten. Was denn das sein soll, fragt der sie interviewende Arzt zurück, ein zweiter Assistent? "Mein Mann", sagt Frau Müller.

© SZ vom 30.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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