Psychopharmaka in der Altenpflege:Spaziergang statt Pille

Jeder zweite Bewohner von Münchner Alten- und Pflegeheimen wird mit Medikamenten ruhiggestellt. Das Münchner Amtsgericht vergleicht das mit Freiheitsentzug. Es will den Einsatz von Psychopharmaka in Seniorenheimen eindämmen - und dafür vor allem die Betreuer aufrütteln.

Von Ekkehard Müller-Jentsch

Es ist Nachmittag in einem Münchner Seniorenheim: Eine demente alte Dame läuft wie so oft hochgradig erregt auf und ab. Die Pflegekräfte wissen keinen anderen Rat, als sie mit Medikamenten ruhigzustellen. Betreuungsrichterin Sylvia Silberzweig vom Münchner Amtsgericht lehnte das als dauerhafte Maßnahme jedoch ab. Sie fand nämlich heraus, dass die Seniorin es fast ein Leben lang gewohnt war, an Nachmittagen ausgedehnte Spaziergänge mit ihren Hunden zu unternehmen. Jetzt kann die Frau mit ehrenamtlichen Helfern, und manchmal auch mit einem Hund, ihre Nachmittagsrunden drehen - seither ist sie ruhig und zufrieden.

Jeder zweite Bewohner von Münchner Alten- und Pflegeheimen wird mit Medikamenten ruhiggestellt. Vor allem zur Nachtruhe, wenn sich wenige Pflegekräfte um viele Schützlinge kümmern müssen, werden die Dämmerschlaf-Pillen verabreicht. Die Münchner Heimaufsicht spricht bereits von einem bedenklichen Umgang mit Psychopharmaka.

Nun will das Amtsgericht München vor allem die Betreuer aufrütteln. Denn die beruhigenden oder sedierenden Substanzen seien gleichzusetzen mit der mechanischen Fixierung der Senioren - also Freiheitsentzug, stellte Präsident Gerhard Zierl auf einer Pressekonferenz am Freitag fest. Deshalb startet das Gericht eine Initiative, um "Hand in Hand mit allen Beteiligten zum Wohl der Patienten die Vergabe von Medikamenten zum Zweck der Sedierung zu reduzieren".

Spezialisierte Pfleger sollen abwägen

Das Amtsgericht wird eng mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen Bayern und dem Bayerischen Hausärzteverband zusammenarbeiten. Immer wenn Anträge auf Genehmigung zur Gabe von Psychopharmaka eingehen, bestellt das Gericht spezialisierte Verfahrenspfleger: "Diese verfügen sowohl über pflegefachliches als auch juristisches Wissen - sie können daher mit den Pflegeverantwortlichen, Angehörigen, rechtlichen Betreuern sowie den Ärzten in der Einrichtung auf Augenhöhe diskutieren und nach alternativen Lösungen suchen", sagt Zierl.

Diese Spezialisten sollen an Ort und Stelle nach alternativen Maßnahmen suchen, damit auch bei Ruhelosigkeit, herausforderndem Verhalten oder gesteigertem Antrieb der Schützlinge auf Psychopharmaka möglichst verzichtet werden kann. Der Leiter des Betreuungsgerichts, Rudolf Mayer, verweist auf die guten Erfahrungen mit dem "Werdenfelser Weg": Da zeige sich, dass durch die Zusammenarbeit aller Disziplinen die Fixierungen von Senioren in Münchner Heimen von zwölf Prozent im Jahr 2011 auf unter fünf Prozent im Jahr 2013 reduziert werden konnten.

Freiheitsrechte des Einzelnen zu achten

"Es ist mir bewusst, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bereich der stationären Pflege bei der Fülle der Patienten und dem Stellenplan der Pflegekräfte eine enorme Herausforderung darstellt", sagt Zierl. "Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die neue Initiative die Lebensqualität der Heimbewohner verbessern und das gegenseitige Vertrauen fördern wird." Die Freiheitsrechte des Einzelnen zu achten und zu schützen und so lang wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, "ist eine grundlegende Verpflichtung unserer Gesellschaft".

Am 6. November sollen auf einem Fachtag die Vertreter der Münchner Alten- und Pflegeeinrichtungen, Fach- und Hausärzte, Angehörigenvertreter und -beiräte, Betreuungsvereine und Vertreter der Psychiatrien informiert werden. Pflegeexperte Claus Fussek lobt die Initiative zwar: Doch letztlich hänge alles an der notwendigen Anzahl gut ausgebildeter und motivierter Pflegekräfte, mahnt er.

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