Psychisch Kranker vor Gericht:Verrückt oder kriminell?

Ein Mann bedroht immer wieder Polizisten, Staatsanwälte und andere Menschen, weil er eine psychische Störung hat. Die Staatsanwaltschaft will ihn dauerhaft in die Psychiatrie stecken. Dabei hält ihn nicht einmal die Polizei für gefährlich - sondern nur für eine Zumutung.

Von Christian Rost

Für seine Umwelt ist er zweifellos eine Zumutung. Doch ist er so gefährlich, dass man ihn ein Leben lang wegsperren muss? Oder muss die Gesellschaft mit solchen Leuten leben? Justizbeamte führen Bernhard P. um 10 Uhr in den Saal 277 am Landgericht München I. Der Mann, Typ Bergfex, lässt keine Minute verstreichen, um zu demonstrieren, dass er ein Rebell ist.

Zunächst weist er Gerichtspsychiater Henning Saß zurecht, weil der bei der gegenseitigen Begrüßung den Doktortitel des Angeklagten weggelassen hat. Dann verkündet P., zum Vorsitzenden Richter Thomas Denz gewandt, dass er stehen bleiben wird während der Verhandlung. Und dabei belässt es der 64-Jährige nicht. Er spaziert bei seinen Wortgefechten munter zwischen Richter- und Anklagebank hin und her. Weil P. seine Grenzen aber immer nur haarscharf überschreitet und Denz ein geduldiger Mensch ist, kommt es nicht zum Eklat.

Wegen Bedrohung, Verleumdung, Beleidigung und Nötigung steht der Psychiatrie-Patient P. derzeit vor der 9. Strafkammer. Es sind keine Kleinigkeiten, um die es geht, aber auch keine Gewaltdelikte: Rund 60 Fälle listet die Anklage auf. Seine frühere Lebensgefährtin, ehemalige Geschäftspartner, zahlreiche Polizisten und auch Ärzte und Kommunalpolitiker attackierte der Mann laut Anklage verbal auf ordinäre wie heftige Art. Er soll sie "Deppen", "Hirnis" und "Arschlöcher" genannt haben, sie Morde und anderer schwerer Straftaten bezichtigt und zum Suizid aufgefordert haben.

Auch Drohungen werden P. vorgeworfen: "I kill you, baby", sprach er zum Beispiel einer Staatsanwältin auf den Anrufbeantworter. Und dem Chef der Polizeiinspektion Starnberg unterstellte er, ein "Naziterrorist" zu sein. Einen Beamten der Münchner Mordkommission bezichtigte P., ein Tötungsdelikt einem Unbescholtenen in die Schuhe geschoben zu haben.

P.s Motive sind rätselhaft, er regt sich sehr schnell auf, vor allem über die Obrigkeit im "CSU-Staat Bayern". Für seine Taten kann er nicht verantwortlich gemacht werden: Laut einem psychiatrischen Gutachten leidet er an einer bipolaren affektiven Störung, ist also manisch-depressiv - und schuldunfähig. Deshalb könnte er vom Landgericht auf unabsehbare Zeit in die psychiatrische Klinik verbannt werden, in der er momentan nur vorläufig untergebracht ist.

Doch wie verrückt ist P. überhaupt - und vor allem: Ist er wegen seiner verbalen Attacken eine Gefahr für die Allgemeinheit? Den bundesweit diskutierten Fall des unter fragwürdigen Umständen in die Psychiatrie eingewiesenen Gustl Mollath führt P. nicht nur einmal als Beispiel für drastische Fehlentscheidungen der bayerischen Justiz an. Die CSU, so ist sich der Angeklagte sicher, stecke hinter der ganzen Verschwörung gegen Mollath, und auch gegen sich selbst sieht P. höhere Kräfte am Werk.

Ein kurioses Schauspiel im Gerichtssaal

Mindestens kurios ist das Schauspiel, das der Angeklagte den Prozessbeteiligten bietet. Kaum ist das erste verbale Gefecht mit Richter Denz bestritten, macht er in den Zuhörerreihen einige Bekannte aus und begrüßt sie der Reihe nach mit Namen. Als der Richter ihn auffordert, die Zeremonie zu beenden, fährt der Angeklagte hoch: "Lassen Sie mich ausreden, sonst gehe ich." Die beiden Wachtmeister im Saal drücken schon die Rücken durch.

Dann verlangt der Angeklagte vehement nach seinen Akten, die er in zwei Kisten im Polizeiauto von der Psychiatrie mit zum Gericht gebracht hatte. Weil seine "Beweismittel" nicht auffindbar sind, kündigt P. erneut an, den Saal zu verlassen. Es ist erst 10.04 Uhr, als ihn der Richter zum ersten Mal scharf ermahnt. Bis zur Mittagspause holt sich der Angeklagte noch drei weitere Rügen, die zu Protokoll genommen werden: Er unterstellt dem Gericht mangelnde Sachkenntnis in medizinisch-psychiatrischen Fragen und ermahnt die beiden Schöffen, nicht einzuschlafen.

Wenn P. so weiter mache, sagt Denz, werde die Verhandlung ohne ihn fortgeführt. Die Stimmung kippt aber nicht, so weit lässt es der Angeklagte nicht kommen, weil er genau weiß, dass er mit dieser Strafkammer nicht schlecht fährt. "Damit Sie es wissen, ich respektiere Sie sehr", sagt der Angeklagte unvermittelt zum Richtertisch gewandt. Und Denz gibt zurück: "Ich weiß, ich Sie auch."

Das Gericht hatte schon einmal über seinen Fall entschieden und ihn auf freien Fuß gesetzt. Das war vor zwei Jahren, als der Mann wegen seiner Taten in Untersuchungshaft saß und ihn die Staatsanwaltschaft schon in eine psychiatrische Klinik zwangseinweisen wollte. Das Landgericht unter Denz' Vorsitz sah ihn aber nicht als so gefährlich an, dass man ihn hätte wegsperren müssen.

Auch in Polizeikreisen empfand man das so: Wenn P., "der Spinner", wieder einmal bei irgendeiner Dienststelle anrief, ließen ihn die Beamten abtropfen. Das Oberlandesgericht München allerdings hob die Entscheidung des Landgerichts am 30. Mai 2011 auf und erließ gegen den Chemiker doch noch einen Unterbringungsbeschluss. Bei seiner telefonischen Drohung gegen die Staatsanwältin habe P. offenbar eine rote Linie überschritten, ist man sich in Justizkreisen sicher. P.s Anwalt David Schneider-Addae-Mensah kritisiert, dass das OLG in einer "Geheimverhandlung" über den Fall entschieden habe und die Verteidigung erst hinterher über den Beschluss informiert worden sei.

Der Aufenthalt in der Psychiatrie Gabersee in Wasserburg ist für P. eine Qual. Letzte Woche, so erzählt er vor Gericht, habe man ihn dort "gefesselt, nackt und niedergespritzt" in seiner "Pisse" liegen gelassen. Auch sein Verteidiger glaubt, dass sein Mandant in der Einrichtung "misshandelt" werde. "Ich will da nicht mehr hin", sagt P.

Dass er sich mit Gott und der Welt angelegt, als Querulant und Übeltäter geriert hat, ist vermutlich eine Folge seiner depressiven Stimmungslagen. Psychiater Saß wird dazu im Laufe des bis Anfang Juli terminierten Prozesses seine Einschätzung abgeben. Und eine Gefährlichkeitsprognose abgeben, die die Grundlage für die Entscheidung sein wird, ob P. je wieder frei kommt.

Er hätte sich das alles ersparen können, er könnte heute als Privatier auf Mallorca in der Sonne liegen. Als Chemiker - Diplomnote 1,9 - im Dienste von Pharmafirmen häufte er ein kleines Vermögen an. Auf die Balearen-Insel floh er im April 2011. Als ihn das Landgericht kurz zuvor freigelassen und das OLG noch nicht über den Fall entschieden hatte, warteten vor der Tür der JVA Stadelheim schon Polizisten, um ihn in ein psychiatrisches Krankenhaus nach Gauting zu bringen. Das Landratsamt Starnberg hatte die sofortige Einweisung wegen seiner verbalen Ausraster veranlasst. Durch ein Fenster gelang P. die Flucht aus der Anstalt - und vor den Behörden. In Mallorca hielt es ihn aber nicht lange, er wollte seine Mission in der Heimat fortsetzen und den Filz im Lande auf seine spezielle Art weiter anprangern.

Als er im November 2012 zurückkehrte, wurde er am Berliner Flughafen festgenommen. Hätte er es ein paar Jahre auf Mallorca ausgehalten, wären alle seine Taten verjährt gewesen. Die Justiz hätte ihm nichts mehr anhaben können.

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