Psychiatrie:Hilfe ohne Einweisung

Angebot erspart seelisch Erkrankten einen Klinikaufenthalt

Von Sven Loerzer

Ärzte nennen das, was der alleinstehenden Amalie Weber (Name geändert) das Leben immer wieder schwer macht, eine "bipolare Störung". Schon seit Jahren versucht die 47-Jährige mit ihrer seelischen Erkrankung zurecht zu kommen. Doch immer wieder rutscht sie in Krisen hinein, die sie schnell wie auf einer Achterbahn von der höchsten Höhe der Euphorie tief hinunter in eine schwere Depression führen. Früher kam sie dann in die Isar-Amper-Klinik in Haar zur stationären Behandlung. Inzwischen hilft ihr ein besonderes Versorgungsangebot, die Krise zu überwinden, ohne sich in eine Klinik begeben zu müssen.

Das neue Angebot hatten die Arbeiterwohlfahrt und die Techniker Krankenkasse 2010 auf den Weg gebracht. Waren dem bislang nur einige weitere kleinere Kassen gefolgt, so ist jetzt auch der Vertrag mit der AOK geschlossen. Damit dürfte sich die Zahl der betreuten Patienten von derzeit 800 auf mehr als 1500 erhöhen. An der Trägerschaft für die Versorgung ist jetzt auch der Bezirk Oberbayern mit seinem Isar-Amper-Klinikum beteiligt.

Den Versicherten bleibt die Einschreibung in die sogenannte integrierte Versorgung freigestellt. Sie wird ihnen von ihrer Krankenkasse angeboten, wenn die Betroffenen zwei Klinikaufenthalte in der Psychiatrie innerhalb von 48 Monaten hatten. Etwa 1000 Versicherte der AOK München erfüllen diese Voraussetzungen, sagt Stephanie Lerf, Geschäftsführerin von Awolysis, einer Tochtergesellschaft der Arbeiterwohlfahrt. Ein umfassendes Behandlungs- und Betreuungsangebot soll Menschen mit schweren psychischen Störungen in akuten Krankheitsphasen ersparen, dass sie sich zur Behandlung ins Krankenhaus begeben müssen und so wieder für längere Zeit aus dem gewohnten Lebensumfeld gerissen werden.

Um dies sicherstellen zu können, werden die ambulante Versorgung und das Netzwerk von Hilfen vom "Vincentro" aus koordiniert, dem Einsatzzentrum für die mobilen und multiprofessionellen Teams unter fachärztlicher Leitung. Dabei werden auch Angehörige eingebunden, wenn die Patienten ihr Einverständnis dazu geben. So lassen sich Anzeichen für eine seelische Krise früh erkennen. Mit dem Patienten wird auch besprochen, was ihm dann am besten hilft. Egal, wann jemand Hilfe braucht, immer ist ein Mitarbeiter erreichbar, 365 Tage im Jahr. Denn oft kann schon ein Telefongespräch mit einer Fachkraft eine drohende Krise entschärfen.

Zu den derzeit 44 Mitarbeitern gehören Psychologen, Sozialpädagogen und erfahrene Psychiatriepfleger. Sie kommen bei Bedarf ins Haus. Für den Fall einer Krise, etwa bei Angstzuständen, verfügt das Vincentro über sogenannte Rückzugsräume in der Landesberger Straße 367 in Laim. Sie sind wohnlich ausgestattet und auch zum Übernachten eingerichtet, damit Patienten, die es zu Hause nicht mehr aushalten, so lange bleiben können, bis sie sich wieder stabilisiert haben. Fachkräfte stehen ihnen zur Seite, damit sie zur Ruhe kommen und wieder in den Alltag zurückfinden. Meist reichen schon wenige Tage, andere kommen für die Nacht. "Den Betroffenen erspart das einen Aufenthalt in Haar", sagt der Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, Jürgen Salzhuber. Gerade für Alleinlebende sei das Angebot sehr wichtig.

Die meisten Patienten hätten affektive, vor allem depressive Erkrankungen, erklärt Stephanie Lerf. An zweiter Stelle stehen Angst- und Anpassungsstörungen, gefolgt von den schizophrenen Erkrankungen. Nicht immer lässt sich eine Klinikeinweisung vermeiden, sie kann vor allem dann notwendig sein, wenn Patienten sich selbst oder andere Menschen gefährden. Gerade dann bietet die vereinbarte Zusammenarbeit zwischen Isar-Amper-Klinikum und Vincentro-Fallmanagern gute Voraussetzungen für die Therapie und die Planung der Entlassung. "Das ist ein Novum", betont Stephanie Lerf. Auch wenn noch einige Versicherungen als Partner fehlen, ist Salzhuber froh, dass es nach dem Abschluss mit der AOK die integrierte Versorgung für "knapp die Hälfte aller Versicherten" gibt.

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