Natürlich hatte er sich aufgeregt. Deshalb brüllte Edris L. ( Name geändert) dem Taxifahrer auch "Arschloch" hinterher. Am Steuer des Daimler Benz E-Klasse 200 CDI saß Martin S. Der 58-Jährige hat Routine. Er fährt seit mehr als 30 Jahren Taxi in München. Was kann einen da im Straßenverkehr noch aus der Fassung bringen, möchte man meinen. Doch in der Nacht des 28. August vergangenen Jahres geriet Martin S. so außer sich, dass er Edris L. fast ermordet haben soll - mit seinem Taxi.
Martin S. soll den 26-Jährigen in voller Absicht angefahren und ihn anschließend noch überrollt haben. Edris L. wurde schwer verletzt. Dass er nicht getötet wurde, gleicht einem Wunder.
Prozess:Münchner Taxifahrer gesteht, absichtlich Fußgänger überfahren zu haben
Auslöser der Attacke war offenbar, dass das Taxi in Schwabing knapp an dem 26-Jährigen vorbeigefahren war und dieser daraufhin gegen das Auto geschlagen hatte.
Am Donnerstagmorgen wird Martin S. von zwei Polizeibeamten an einer Handfessel in den Sitzungssaal B 162 im Strafjustizzentrum an der Nymphenburger Straße geführt. Er sitzt seit der mutmaßlichen Tat in Untersuchungshaft. Staatsanwalt Laurent Lafleur wirft ihm vor, er habe Edris L. aus niedrigen Beweggründen und heimtückisch ermorden wollen.
Es ist ein beispielloser Fall. Martin S. schweigt zu den Vorwürfen. Fragen zur Sache werde sein Mandant zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten, erklärt sein Verteidiger, Rechtsanwalt Johannes Buchberger. Stattdessen verliest er eine Erklärung für den Angeklagten. Martin S. räumt darin die Tat im Großen und Ganzen ein. Doch warum er derart ausgerastet ist, bleibt unklar.
Edris L. soll zwar eine provozierende Handbewegung gemacht haben. Aber so etwas passiert jeden Tag auf Münchens Straßen. Er sei nicht betrunken gewesen, sagt der Angeklagte. Cannabis rauche er, gibt der Taxifahrer zu, das schon. Aber nur alle zwei bis drei Wochen. Und dann nur "ein bis zwei Zigaretten". Während der Arbeit habe er nie geraucht, versichert der 58-Jährige.
Dann rastet der 58-Jährige aus
Sonntagnacht, 28. August 2016. Martin S. hat gerade einen Fahrgast aussteigen lassen. Er macht sich auf den Rückweg an seinen Stand am Feilitzschplatz. In der Nähe arbeitet Edris L. in einem Wettbüro. Er hat gerade Feierabend und läuft auf die Franzstraße, in der Nähe der Münchner Freiheit. Zwei junge Frauen sprechen ihn an und fragen nach einer Kneipe. Edris L. gibt Auskunft.
In diesem Moment biegt Martin L. laut Anklage "mit erhöhter Geschwindigkeit" aus der Siegesstraße nach rechts in die Franzstraße. Es ist eine Einbahnstraße. Die Geschwindigkeit ist auf 30 Kilometer in der Stunde begrenzt. Martin S. soll "mit äußerst knappem Abstand" an Edris L. und den jungen Frauen vorbeigefahren sein.
Der 26-Jährige versucht, die Türe des Taxis aufzumachen, um den Fahrer darauf aufmerksam zu machen, wie brenzlig die Situation gerade eben war. Die Tür aber lässt sich nicht öffnen. Edris L. schlägt deshalb mit der flachen Hand auf die hintere rechte Scheibe des Wagens. Martin S. fährt weiter. Doch dann rastet der 58-Jährige aus.
Er legt den Rückwärtsgang ein, fährt an der Gruppe auf der Franzstraße vorbei. An der Einmündung zur Siegesstraße aber stoppt der schwere Mercedes plötzlich. In diesem Augenblick muss es in Martin S. gebrodelt haben. In der Anklageschrift von Staatsanwalt Laurent Lafleur heißt es lapidar: "Der Angeklagte war über den aus seiner Sicht unangemessenen Hinweis des späteren Geschädigten L. so erbost, dass er beschloss, diesen zu überfahren."
"Ich dachte, er will mir Angst machen"
Martin S. legt den ersten Gang ein. Zeugen zufolge lässt er den Motor aufheulen und gibt Vollgas. Mit einer Geschwindigkeit von rund 25 Kilometer in der Stunde soll er auf die jungen Leute zugefahren sein. Die beiden Frauen seien zur Seite gesprungen, so Edris L. bei seiner Aussage. "Ich dachte, er will mir Angst machen, ich bin stehen geblieben. Dann hat er mich angefahren." Alles geht rasend schnell. Ob Martin S. sein mutmaßliches Opfer nun mit der "Fahrzeugfront wuchtig erfasst", wie es in der Anklage heißt, oder aber mit der rechten Fahrzeughälfte, wie Edris L. glaubt sich erinnern zu können, bleibt zum Prozessauftakt offen.
Durch die Wucht des Aufpralls wird der schmächtige, etwa 1,70 Meter große Afghane auf die Motorhaube des Taxis geschleudert. Ungeachtet dessen soll Martin S. einfach weitergefahren sein. Nach einigen Metern rutscht Edris L. von der Motorhaube, prallt auf den Asphalt und wird von dem Mercedes überfahren. Es müssen Szenen gewesen sein wie aus einem Action-Film.
Glücklicherweise kommt er so zum Liegen, dass er nicht von den Räder des Taxis überrollt wird. Martin S. hält an. Nur für Sekunden. Dann fährt er weiter. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er den regungslos am Boden liegenden Edris L. gesehen habe und ihm bewusst gewesen sein müsse, dass er ihn lebensgefährlich verletzt habe. Der 26-Jährige, der in dem Prozess als Nebenkläger auftritt, erleidet Schürfwunden am ganzen Körper. "Ich lag auf der Straße, mir war schwindelig", sagt L. bei seiner Vernehmung. Der 26-Jährige befand sich drei Tage zur stationären Behandlung im Klinikum Bogenhausen.
In der Erklärung, die sein Verteidiger verliest, beteuert Martin S., er habe zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt, dass Edris L. "tödliche Verletzungen erleidet". Der 26-Jährige leidet bis heute auch psychisch unter den Folgen der mutmaßlichen Tat. "Wenn ich auf die Straße gehe und Taxis sehe, ist das ein großes Problem für mich", sagt Edris L.