Süddeutsche Zeitung

Prozess:Verfolgt bis vor die Haustür

Ein 44-Jähriger sieht vor Gericht eine Frau wieder, die ihn über Monate hinweg stalkte

Von Andreas Salch

Gleich wird er die Frau wiedersehen. Sie war einmal seine Arbeitskollegin. Und nun, an diesem Montagmorgen, lässt allein ihr Anblick alles in dem Vater, der als Zeuge vor dem Landgericht München I geladen ist, wieder hochkommen. Die Angst, die pure Verzweiflung von vor drei Jahren. Der 44-jährige IT-Techniker wartet vor dem Sitzungssaal B 273 am Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße darauf, dass er aufgerufen wird. Gerade war Verhandlungspause. Die Türe zum Saal steht noch offen. Der Vater ist drinnen schon zu hören. Er atmet schwer, schluchzt.

Kaum hat er im Zeugenstand Platz genommen, beginnt er zu weinen. Die Frau auf der Anklagebank scheint das nicht wirklich zu interessieren. Irina J. soll den IT-Berater 2018 über Monate hinweg terrorisiert haben. Mit Hunderten E-Mails und Kurznachrichten. Nachts soll sie sogar mehrmals vor der Haustüre ihres ehemaligen Kollegen gestanden sein. Irina J. ist mutmaßlich eine Stalkerin.

Im November 2017 hatte die 49-Jährige bei einer Firma in Moosach einen Job erhalten. Nach ein paar Wochen habe sie begonnen, "seltsame Geschichten zu erzählen", berichtet der Familienvater mit tränenerstickter Stimme. Irina J. habe von angeblichen "Hochgeschwindigkeitsspielen" geredet und sei mitunter plötzlich "einfach stehen geblieben", berichtet der 44-Jährige. "Wir haben versucht, ihr zu helfen." Sie habe gesagt, sie leide an "Schizophrenie", und dass sie "ein Kind von mir wolle, für eine Million Euro", erzählt der Mann unter Tränen.

Irina J. wurde noch während der Probezeit gekündigt. Doch sie tauchte immer wieder bei dem Unternehmen auf. Entweder wartete sie davor oder betrat das Gebäude. Sie erhielt Hausverbot, kümmerte sich aber nicht darum. Es kam zu Polizeieinsätzen.

Der Vater ging zum Amtsgericht. Es untersagte Irina J. jeglichen Kontakt zu ihrem früheren Kollegen. Der Beschluss wurde ihr zugesandt. Versehentlich enthielt er aber auch die Privatadresse des 44-Jährigen. Daraufhin sei die IT-Beraterin "mindestens dreimal bei ihm zu Hause" nachts aufgetaucht. "Ich habe versucht, die Frau zu verdrängen aus meinem Leben. Das kommt jetzt alles wieder hoch", entschuldigt sich der IT-Techniker bei dem Vorsitzenden der 8. Strafkammer, Richter Gilbert Wolf. "Sie hat mich gestalkt", schluchzt der 44-Jährige.

Wie sich dies auf seine Familie ausgewirkt habe, fragt die Vertreterin der Staatsanwaltschaft. "Wir hatten alle Angst", antwortet der IT-Techniker. Er habe befürchtet, Irina J. könne seinem Kind etwas antun. Er habe "nie etwas privat" mit der 49-Jährigen gehabt und ihr "ganz oft gesagt", sie solle ihn in Ruhe lassen. Irina J. hält sich in diesem Moment vor Lachen die Hand vors Gesicht, steht von ihrem Platz auf der Anklagebank auf und will dem Zeugen Fragen stellen. "Hinsetzen", herrscht Richter Wolf die 49-Jährige an, "oder Sie fliegen raus". Als sie den IT-Techniker nach dessen Arbeitsadresse fragt, wird ihr das Wort entzogen. Der 44-Jährige wird aus dem Zeugenstand entlassen und verlässt schnell den Saal.

Irina J. befindet sich derzeit aufgrund einer einstweiligen Verfügung in einer geschlossenen psychiatrischen Klink. Laut Ärzten leidet sie an einer paranoiden Schizophrenie. Strafrechtlich kann die IT-Beraterin deshalb nicht zur Verantwortung gezogen werden. Aus diesem Grund hat die Staatsanwaltschaft bei Gericht eine Antragsschrift eingereicht. Darin heißt es unter anderem, dass infolge des Zustandes der 49-Jährigen weitere "erhebliche rechtswidrige Taten" von ihr zu erwarten seien und sie für die "Allgemeinheit gefährlich" sei. Das Verfahren wird am Freitag fortgesetzt.

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SZ vom 26.01.2021
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