Prozess:Räuber aus Verzweiflung

Schulden, Arbeitslosigkeit und kein Geld für ein Weihnachtsgeschenk für seine Tochter: Weil ein Industriekaufmann zwei Tage vor Heiligabend kein Geld mehr hat, überfällt er mit einer Waffe eine Frau am Alten Südfriedhof. Nun muss er sich vor dem Landgericht München verantworten.

Von Christian Rost

Zwei Tage vor Heiligabend 2012 spuckte der Geldautomat nichts mehr aus - und Wolfgang F. konnte seiner sechsjährigen Tochter kein Weihnachtsgeschenk kaufen. In dieser Lage fasste der 49-jährige Industriekaufmann einen Entschluss, der ihn für viele Jahre ins Gefängnis bringen könnte. Am Alten Südfriedhof raubte er einer Frau mit vorgehaltener Waffe die Handtasche. "Ich weiß selbst nicht, was damals mit mir los war", so Wolfgang F. am Montag vor der zweiten Strafkammer am Landgericht München I. Er muss sich wegen schwerer räuberischer Erpressung und schweren Raubes verantworten.

Claudia S. (Name geändert) befand am 22. Dezember gegen 13 Uhr auf dem Heimweg von der Post an der Fraunhoferstraße. Im Südfriedhof blieb die Übersetzerin am Grab von Carl Spitzweg stehen. Sie wohnte noch nicht lange in der Isarvorstadt und dachte sich: "Hey, ist das der Spitzweg?" In diesem Moment trat ein "völlig harmlos aussehender Mann" an sie heran, wie sich die 53-Jährige erinnert. Statt nach dem Weg zu fragen, wie die Frau vermutete, zog Wolfgang F. eine Pistole.

Er verlangte die Handtasche von Claudia S. und wollte sich mit der Beute davonmachen. Die Frau ließ das nicht zu. Sie hatte gerade eine katastrophale Ehe hinter sich gebracht und neuen Mut gefasst. Sie wollte sich nicht mehr unterkriegen lassen, also setzte sie F. nach und brüllte ihn an, es seien nur 30 Euro in der Tasche, das Geld könne er haben. Die Tasche mit ihren Ausweispapieren solle er aber zurückgeben. F. ging schnellen Schrittes weiter.

Die Frau rief nun schrill und laut um Hilfe, was Raimund R. in einiger Entfernung hörte. Der Musiker war gerade beim Einkaufen, zwei Tüten hingen an seinem Fahrrad, er wendete und sah schließlich eine Frau und einen Mann, der eine Waffe in der Hand hielt. F. richtete die geladene Gaspistole sofort auf den Zeugen und sagte: "Ich knall dich ab." Raimund R. ließ den Unbekannten ziehen. Das Bild vom Lauf der auf ihn gerichteten Pistole bekommt R. seither nicht aus dem Kopf: "Vor dem Einschlafen denke ich oft daran."

Mit dem Rad nahm er die Verfolgung auf

Nachdem sich der Zeuge gefasst hatte, nahm er mit dem Rad die Verfolgung auf. "Es war wie im Kino." Er hatte sein Handy am Ohr und beschrieb einem Polizeibeamten in der Einsatzzentrale den Fluchtweg F.s bis zur Kapuzinerstraße. Der Räuber drehte sich unterwegs noch einmal um, zielte erneut auf R. und rief wieder: "Ich knall dich ab." Dann setzte F. stoisch seine Flucht fort. Seine Umgebung nahm er nicht mehr wahr. Als ihn kurze Zeit später in der Kapuzinerstraße ein Polizist stellte und aufforderte, die Waffe niederzulegen, reagierte der Mann zunächst nicht. Raimund R. empfand die Situation als äußerst brenzlig. "Ich weiß nicht, was passierte wäre, wenn sich der Räuber nicht doch ergeben hätte."

Claudia S. leidet schwer unter den Folgen des Überfalls. Sie ist in psychotherapeutischer Behandlung, im Zeugenstand bricht sie in Tränen aus. Wolfgang F. tut es sichtlich leid, was er angerichtet hat. "Warum habe ich das getan?", fragt er sich selbst, "ich hätte mir locker von einem Freund Geld leihen können. Und am 28. Dezember wäre mein Gehalt auf dem Konto gewesen." Der Angeklagte war nicht etwa betrunken bei der Tat, er hat auch keine Drogenprobleme.

Bevor er sich zu dem Überfall entschloss, war der Industriekaufmann ein ganz normaler Familienvater. Allerdings hatte er 60 000 Euro Schulden, weil er sich nach einem Motorschaden ein neues Auto kaufen musste. Er hatte auch die Klinik-Kosten für die Geburt seiner Tochter tragen müssen, weil seine südamerikanische Frau nicht krankenversichert war. Ein Jahr lang war er arbeitslos.

Anders als die meisten Angeklagten, die wegen Raubes vor Gericht stehen, ist Wolfgang F. eine gepflegte Erscheinung. Er trägt einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Mehrfach entschuldigt er sich für die Tat, die er selbst nicht begreifen kann. "An jenem Tag ließ ich meine Tochter stundenlang allein zu Hause, das hatte ich noch nie getan", sagt F. Der Prozess wird fortgesetzt.

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