Süddeutsche Zeitung

Prozess:Psychiater: Messerstecher von Grafing ist schuldunfähig

  • Paul H. steht vor Gericht, weil er im Wahn am Bahnhof in Grafing auf vier Menschen eingestochen hat. Ein Mensch starb, drei überlebten schwer verletzt.
  • Ein Psychiater kommt zur Einschätzung, dass H. zur Tatzeit "schwer psychisch krank" gewesen sei.

Aus dem Gericht von Korbinian Eisenberger

Paul H. schaut dem Mann in die Augen, dem er damals in den Rücken gestochen hat. Johannes B. hat die Messerattacke am Grafinger Bahnhof überlebt, doch sein Leben ist nicht mehr wie vorher. Er war Zeitungsausträger und Freizeitsportler, Bergsteiger und Mountainbiker. "Ich verbringe 16 Stunden am Tag im Freien", sagt er.

Jetzt sitzt er auf dem Zeugenstuhl, rechts neben ihm steht ein Rollator, seit dem Angriff vom 10. Mai ist er halbseitig gelähmt und arbeitsunfähig. Der Mann, der ihm das angetan hat, sitzt drei Meter daneben. Paul H. trägt ein weißes Hemd, es ist der Tag, an dem die Entscheidung fallen wird, ob er bei der Tat schuldfähig war.

Vierter Verhandlungstag am Landgericht München II, der Gerichts-Psychiater Cornelis Stadtland stellt sein Gutachten vor. Er kommt zu der Einschätzung, dass H. in der Tatnacht "eindeutig vollumfänglich schuldunfähig war". Er sei "schwer psychisch krank" gewesen. Für das Urteil, das am Donnerstag gesprochen wird, dürfte dies entscheidend sein. Die Anklage lautet auf Mord und dreifach versuchten Mord mit dreifacher Körperverletzung. Für Paul H. wird es nun sehr wahrscheinlich zurück in die geschlossene Psychiatrie gehen.

An einem Dienstagmorgen vor gut einem Jahr hatte der Beschuldigte am Bahnhof im Wahn ohne Vorwarnung auf vier Menschen eingestochen, drei Grafinger überlebten schwer verletzt, darunter Johannes B. Ein 56-Jähriger starb nach neun Messerstichen in der S-Bahn im Krankenhaus. Für das Gericht ist nun klar, dass Paul H. damals unter dem Einfluss seiner Krankheit gehandelt hat, einer bipolaren affektiven Störung, die in der Grafinger Nacht eine Art Verfolgungswahn auslöste.

Nach Ansicht des betreuenden Klinikarztes ist Paul H. seit etwa einem Jahr stabil, er sei medikamentös gut eingestellt. Eine "dauerhafte Unterbringung" in der forensischen Psychiatrie würde bedeuten, dass H. auch Ausgangszeit bekommen könnte. Die Dauer eines Aufenthalts dort ist offen, der sogenannte "Maßregelvollzug" soll die Allgemeinheit vor dem Täter schützen und den Heilungsprozess des Täters fördern. Bei einer positiven Entwicklung könnte er dann den geschlossenen Bereich verlassen, zuerst mit Personal, dann mit der Familie. Bisher war H. in einer Forensik in Bayern untergebracht. Sein Arzt empfiehlt eine Verlegung nach Hessen, in die Nähe seiner Familie.

Johannes B.s Anwältin erklärt, dass ihr Mandant bisher keine Opferentschädigung bekommen hat. Seine durchtrennten Nerven werden laut Gerichtsmediziner wohl nie wieder zusammenwachsen. Als B. mit seiner Zeugenaussage fertig ist, spricht ihn Paul H. direkt an. "Ich werde versuchen, Sie so gut wie es geht zu entschädigen", sagt er. "Mir tut das Ganze unglaublich leid." Johannes B. schaut ihn an und nickt.

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SZ vom 17.08.2017/ebri
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