Es gab noch ein letztes gemeinsames Foto im Hafen von Seget Donji in Kroatien: Sechs junge Menschen lächeln in die Kamera, ein gemeinsames Team-T-Shirt übergestreift, ehe sie mit einem gecharterten Boot zu einem einwöchigen Segeltörn in der Adria aufbrechen wollen. Eine Stunde später ist einer von ihnen tot: Adrian L. (Name geändert), 26 Jahre. Er wurde beim Schwimmen auf dem offenen Meer in die Schiffsschraube gezogen. Ein tragischer Unfall, so sehen es die Mitreisenden, niemand wisse, wie das passieren konnte. Doch Staatsanwältin Simona Müller hat gegen den verantwortlichen Skipper einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung erlassen – und die Eltern von Adrian L. suchen nach der bitteren Wahrheit.
Damian R. lässt immer wieder den Kopf sinken, starrt auf seine Hände, selten richtet er seinen Blick auf die gegenüberliegende Seite. Dort sitzt der Vater von Adrian L., ein Münchner Rechtsanwalt, der als Nebenkläger in dem Verfahren auftritt. Er sei ein Mensch, der verzeihen könne, sagt er, und das habe er auch Damian R. nach dem Unfall erläutert. Aber die Erklärung, die der 39-Jährige ihm bei einem persönlichen Gespräch gegeben habe, „die glaube ich nicht“.
Damian R. und Adrian L. waren offenbar freundschaftlich und auch beruflich verbandelt. Auf dieser Basis kam der Urlaub in Kroatien zustande, es trafen sich Freunde und Mitarbeiter mit Frauen. Es ist der Sommer 2020. Die See ist ruhig, der Himmel blau, als das Segelboot „Capella“ die Marina in Seget Donji verlässt. Ziel ist die Insel Brač. Damian R. ist der Einzige, der was von Schiffen versteht, alle anderen Passagiere haben keinerlei nautische Erfahrung, „alles Fußgänger“, wie Richter Thomas Müller bemerkt.
Nach etwa einer Stunde, so erzählt es der Angeklagte, sei Adrian L. urplötzlich bei voller Fahrt von Bord gesprungen. Typisch sei das für ihn gewesen, werden später die anderen Zeugen sagen. Adrian habe immer das Gegenteil von dem gemacht, was erlaubt gewesen sei. Er, Damian, habe das Boot, das mit Motor fuhr und nicht segelte, gewendet, sei zurück zu Adrian, musste nochmals wenden und habe mit kurzzeitigem Rückwärtsgang die Fahrt gebremst und das Boot quer gestellt. Der Schalthebel sei auf Leerlauf gestanden, „zu 100 Prozent“. Dann hätte man Adrian an Bord gehievt.
Von da an werden die Aussagen widersprüchlich. Denn Tatsache ist, dass nach dem Unglück der Schalthebel des Boots auf R stand, R wie Rückwärtsgang. Er habe bei dieser Gelegenheit das Beiboot holen und hinten zu Wasser lassen wollen, sagt der Angeklagte. Andere Zeugen sagen, es sollte einen Badestopp geben, Adrian hätte nochmal schwimmen wollen. Einer erklärt, er sei in die Kabine gegangen, um seine Taucherbrille zu holen. Zwei zogen das Schlauchboot zum Hinterteil des Schiffs, niemand war mehr auf der rückwärtigen Plattform. „Adrian war unbeaufsichtigt“, meint eine Zeugin – und verschwunden.
Das Wasser habe sich plötzlich rot gefärbt, erzählt Damian R. Sein Kumpel und er seien ins Meer gesprungen und zur Schiffsschraube getaucht. Dort klemmte der Körper von Adrian L., von einem Schraubenblatt durchbohrt, unter Wasser fest, „er war nicht mehr bei Bewusstsein“. Jegliche Versuche, ihn an der Hand herauszuziehen, seien gescheitert. Adrian L. ertrank.
Damian R. brüllt, „wählt 112“ ruft eine Stimme – es gibt ein Video von der Situation, als man den Toten entdeckte, aufgenommen von der Ex-Freundin von Damian R. „Wie kommt man in so einem Augenblick darauf, ein Video zu drehen?“, fragt der Richter entsetzt. Merkwürdig ist auch, dass einer der jungen Männer Adrians Vater um 11.45 Uhr vom Tod seines Sohnes verständigte, der Notruf soll aber erst um 12.20 Uhr abgesetzt worden sein.
Drei Stunden lang warteten die fünf Besatzungsmitglieder auf die kroatische Polizei, während der Leichnam im Meer feststeckte. „Haben sie sich in der Zeit abgesprochen, was den Unfallhergang betrifft“, bohrt Frank Eckstein, Anwalt des Vaters, immer wieder bei den Zeugen nach. Auch die Frage, ob das Video weit nach dem Unfall erst gedreht wurde, steht im Raum. „Um Gottes Willen nein“, ruft eine Zeugin dazu. Einer meint, Adrian selbst habe versehentlich den Schalthebel auf R gestellt, ehe er sprang. Ein anderer wirft die These auf, einer der Mitfahrenden sei an den Hebel gekommen.
Verteidiger Tim Weller verlangt eine Einstellung des Verfahrens, aber ein Rechtsgespräch scheitert. Ihm geht es darum, dass sein Mandant mit 180 Tagessätzen zu 100 Euro vorbestraft wäre. Deshalb hatte er Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt. Am Ende verurteilt Richter Müller den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu 150 Tagessätzen a 30 Euro. Er geht davon aus, dass beim Verbringen des Schlauchboots nach hinten aus Versehen der Schalthebel gestreift worden sein könnte. Adrian L. sei dann wohl durch den Sog der Schraube unter Wasser gezogen worden. Aber einige Ungereimtheiten, so sagt der Richter, die bleiben.

