Prozess in Stadelheim:Schütze von Unterföhring hatte "schlechte Gedanken"

Prozess um Schüsse auf Polizei und Passanten

Alexander B. wurde in Starnberg geboren, er wanderte im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern in die USA aus

(Foto: dpa)
  • Alexander B. steht in München wegen dreifachen Mordversuchs vor Gericht.
  • Der psychisch kranke 38-Jährige hat einer Polizistin in Unterföhring in den Kopf geschossen. Die Frau befindet sich bis heute im Wachkoma.
  • Am ersten Prozesstag ging es darum, was genau im S-Bahnhof passiert ist.

Aus dem Gericht von Susi Wimmer

Es sind Sequenzen, die sich ins Gedächtnis einbrennen: Rechts neben dem gläsernen Aufzug im S-Bahnhof Unterföhring flüchtet Kilian I. mit eingezogenem Kopf vor den Schüssen des Mannes, der ihm gerade die Dienstwaffe abgenommen hat. Links neben dem Aufzug steht Jessica L. und tut das, was sie als Polizistin gelernt hat. Sie sichert ihren Kollegen, trägt ihre schusssichere Weste, steht aufrecht, beide Arme ausgestreckt nach vorne, und richtet ihre Waffe auf den Schützen. Die letzten Sekunden in ihrem Leben als Polizistin. Dann kippt sie um und bleibt reglos liegen. Die 26-jährige Beamtin überlebt einen Schuss in den Kopf, befindet sich aber bis heute im Wachkoma.

Alexander B. nestelt an den Knöpfen des Saalmikrofons herum, seine Stimme ist nicht zu hören. Wegen des zu erwartenden Andrangs wurde die Verhandlung wegen dreifachen Mordversuchs gegen den psychisch Kranken in den neuen High-Tech-Gerichtssaal nach Stadelheim verlegt. Aber nur eine Handvoll Besucher interessieren sich für den Prozess vor der neunten Strafkammer am Landgericht München I. Endlich findet Verteidiger Wilfried Eysell den Knopf und erklärt, dass man "im Augenblick keine Stellungnahme" abgeben werde. Wenig später spricht der Rechtsanwalt in die Kameras der Medien, dass sich Alexander B. an die Tat nicht erinnern könne. "Alles im Nebel", sagt er.

Dafür wird den Prozessbeteiligten und den Zuschauern glasklar und minutiös vor Augen geführt, was an jenem 13. Juni 2017 geschah. Etliche Videokameras filmen, wie der 38-Jährige am Münchner Flughafen ankommt und am Tag darauf in die S-Bahn nach München steigt. In der Bahn sieht man, wie er sich die Haare rauft, die Brille ablegt und plötzlich aufsteht. Er geht durch die Gänge und schlägt mit der Faust mehrfach auf einen Fahrgast ein.

Das Opfer, Florian P., sagt später, die Schläge seien "wie aus dem Nichts gekommen". Fahrgäste ziehen den Schläger von ihm weg, informieren die Polizei und alle steigen in Unterföhring aus. Alexander B. steht reglos auf dem Bahnsteig. "Ich dachte mir, da stimmt was nicht mit dem Typen", erzählt Florian P. Er rückt von dem Mann ab und folgt den Sanitätern hinauf in den Krankenwagen.

Unterdessen befragt Polizist Kilian I. den letzten Zeugen am Bahnsteig vor dem gläsernen Lift, Jessica L. und Alexander B. stehen daneben. Im Aufzug spiegeln sich die Lichter der einfahrenden S-Bahn. Plötzlich wirft sich Alexander B. auf den Polizisten, will ihn auf die Gleise schubsen. Der Beamte kommt kurz vor der S-Bahn auf dem Bahnsteig zum Liegen. Es entwickelt sich ein Gerangel, die Polizistin und der Zeuge greifen ein. In dem Menschenknäuel zeichnet sich auf dem schachbrettartigen Fliesenboden die Hand von Alexander B. ab: Er hält die Dienstwaffe von Kilian I. umklammert.

Der Zeuge flüchtet hinter den Lift, Kilian I. will ihm folgen. Alexander B. drückt den Abzug und schießt fünfmal. Er verfehlt den Polizisten. Eine Kugel aber prallt an der S-Bahn ab und trifft einen Passanten weiter hinten auf dem Bahnsteig, er erleidet einen Wadendurchschuss. Jessica L. hat ihre Waffe gezogen, sie steht etwa drei Meter vor Alexander B. Sie schießt zweimal, eine Kugel trifft den Angreifer und durchschlägt seinen Körper in der Leistengegend.

Er habe sich zweimal das Leben nehmen wollen

Die zweite Kugel geht daneben, wird von der S-Bahn abgelenkt und trifft den Oberarm eines Passanten. Alexander B. nimmt die zweite Hand zu Hilfe, führt sie an die Waffe und schießt. Die Kugel durchdringt den Kopf der 26-Jährigen. Bei einer Not-Operation muss ihr ein Großteil des Gehirns entfernt werden. Sie wird ihr Leben lang ein Pflegefall bleiben. Acht Fahrgäste in der beschossenen S-Bahn sowie der Fahrdienstleiter erleiden einen schweren Schock. Alexander B. flüchtet und wird wenig später in einem Schrank im nahen Allianz-Gebäude gefasst.

Akkurat ist das schwarze Haar des Angeklagten geschnitten, präzise sind auch seine Antworten. Alexander B. wurde in Starnberg geboren, wanderte im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern, beide Musiker bei den Münchner Philharmonikern, in die USA aus und lebte in Las Vegas und Colorado. Der gelernte Elektriker erzählt, er habe sich in den USA zweimal das Leben nehmen wollen, "wegen der schlechten Gedanken". Einmal lief er mit einem Winkelmaß auf einen Polizisten zu, bereit, sich erschießen zu lassen.

Das andere Mal wollte er sich erhängen - und scheiterte erneut. Er sei eine Woche in der Psychiatrie gewesen, habe Medikamente bekommen, diese aber wieder abgesetzt. Eigentlich wollte er zu einem Europa-Trip aufbrechen, flog nach Athen, doch dort kamen die Stimmen in seinem Kopf wieder. Er buchte einen Flug nach München, weil in Schwabhausen Verwandte leben. Auf dem Flug habe er das Gefühl gehabt, die Leute lachten über ihn und das Essen sei vergiftet.

Um eine Polizeiwaffe aus dem Holster zu ziehen, so erläutert ein Sachverständiger, müssen zwei Sicherungen umgangen werden. Um den Abzug zu betätigen, ist noch eine Sicherung eingebaut. Ob es Zufall gewesen sei, dass Alexander B. diese Sicherungen lösen konnte, fragt der Vorsitzende Richter Philipp Stoll. "Zufall, Glück, Pech", antwortet der Sachverständige. An diesem Mittwoch sagt Kilian I. aus.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: