Prozess gegen John Demjanjuk:Vorwürfe gegen deutsche Ermittler

"Juristischer Blindflug": Im Prozess gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher John Demjanjuk haben sich Vertreter der Nebenklage mit den Versäumnissen der deutschen Justiz bei der Bestrafung von NS-Verbrechern beschäftigt.

Robert Probst

Im Prozess gegen John Demjanjuk vor dem Münchner Landgericht haben sich am Donnerstag Vertreter der Nebenklage mit den Versäumnissen der deutschen Justiz bei der Bestrafung von NS-Verbrechern beschäftigt. Der Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler nutzte die Gelegenheit, in seinem Schlussplädoyer auch die Zentrale Stelle zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hart zu attackieren. Vor allem an deren Haltung habe es gelegen, dass John Demjanjuk nicht schon Jahre früher in Deutschland vor Gericht gestellt werden konnte.

Prozess gegen John Demjanjuk wird fortgesetzt

Die Staatsanwaltschaft wirft dem gebürtigen Ukrainer John Demjanjuk Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen vor.

(Foto: dapd)

Nestler sprach vom "juristischen Blindflug" der Zentralen Stelle und unterstellte sogar, dass vor allem die Regierung Schröder/Fischer eine Aufnahme mutmaßlicher ausländischer NS-Verbrecher aus politischen Gründen ablehnte. Nestler schlug einen weiten Bogen, um die Legitimität des Verfahrens gegen den inzwischen 91 Jahre alten Angeklagten darzulegen und gegen Zweifler zu verteidigen.

Die Staatsanwaltschaft hält es für erwiesen, das der gebürtige Ukrainer 1943 im Vernichtungslager Sobibor bei der Ermordung von mehr als 27.900 Juden bereitwillig mitgeholfen hat. Sie fordert eine Gefängnisstrafe von sechs Jahren. Nestler befasste sich vor allem mit der "Geschichte von Unterlassungen und Fehlern" bei der Verfolgung von NS-Verbrechern - und bezog sich dabei vor allem auf die Prozesse um das Todeslager Sobibor.

So seien bereits 1949/1950 zwei zwei deutsche SS-Männer für ihre Mordtätigkeiten dort verurteilt worden, in den 1960er Jahren fand dann ein Prozess gegen weitere SS-Männer vor dem Landgericht Hagen statt. Schon damals aber hätte klar sein müssen, dass auch die "fremdvölkischen Wachmänner" der Beihilfe zum Mord verdächtig seien - allein die deutsche Justiz zeigte keine Reaktion auf dieses Problem oder "sah weg", so Nestler.

Dafür gebe es viele Gründe - etwa, dass über diese Ex-Wachmänner wenig bekannt war, aber auch, dass sich die Justiz auf sogenannte Exzesstäter konzentrierte. Die Hauptkritik richtete Nestler jedoch an die Zentrale Stelle in Ludwigsburg, die dem "Mythos" angehangen habe, für Ermittlungen brauche es immer einen Einzeltatnachweis - den man bei Demjanjuk nicht führen kann. Spätestens aber nach Demjanjuks Freispruch in Israel und neuen Ermittlungen in den USA nach der Öffnung sowjetischer Archive habe es 2002 eine breite Beweislage gegen Demjanjuk gegeben. Die Ludwigsburger aber hätten im "juristischen Blindflug" weiter der Maxime angehangen, einen ausländischen Wachmann könne man in Deutschland nicht anklagen. "Das fiel leicht, es passte gut in die politische Landschaft", kritisierte Nestler und beschuldigte vor allem den damaligen Außenminister Joschka Fischer, der 2004 die Aufnahme eines anderen Wachmanns nach Deutschland abgelehnt habe.

In dem Zusammenhang sprach Nestler von einer "unausgesprochenen Koalition" der NS-Ermittler und der damaligen Regierung Schröder/Fischer. Dass die Ermittlungen gegen Demjanjuk dann 2008 doch noch zustande kamen, seien dem Zufall und dem "Querdenker" Thomas Walther zu verdanken - "endlich passierte, was ein halbes Jahrhundert versäumt worden war." Schließlich sei bereits im Urteil des Landgerichts Hagen 1966 festgestellt worden, dass jede funktionelle Mitwirkung beim Holocaust in Sobibor als Beihilfe zum Mord gewertet werden müsse - dies gelte auch für die ukrainischen Wachmänner. Somit sei auch die Theorie des Ludwigsburger Ermittlers Walther, es bedürfe im Fall der Vernichtungslager keinen individuellen Tatnachweis, auch kein juristisches Novum. "Demjanjuks Tat war so groß, so schwer, so einzigartig und so ungeheuerlich", dass dessen hohes Alter, die lange Spanne seit dem Verbrechen und die laxe Verfolgungspraxis der deutschen Justiz gegen NS-Verbrecher hier wie Nebensächlichkeiten wirken müssten, betonte Nestler.

Der "Starrsinn seiner Lebenslüge", die fehlende Reue und das fehlende Schuldbekenntnis, machten es unmöglich, auch "nur ein Jota Mitgefühl" mit dem Angeklagten zu entwickeln. Da die Nebenkläger unterschiedliche Auffassungen von der notwendigen Strafe hätten - die Bandbreite reicht von "Schuldspruch, aber keine Strafe" bis zur Höchststrafe von 15 Jahren - verzichtete Nestler auf einen konkreten Strafantrag. Er forderte eine "Strafe, die der Tat und der persönlichen Situation Demjanjuks gerecht wird". Der Strafrechtler betonte, die Nebenkläger würden jede Entscheidung als "weise und gerecht akzeptieren, wenn sie ausreichend erklärt wird".

Nestler lobte zudem das Gericht und die Münchner Justizverwaltung für die fürsorgliche Betreuung der mehr als 20 Nebenkläger und deren Angehörigen, die in den vergangenen beiden Tagen dem Prozess beiwohnten. Sie seien "beeindruckt und dankbar". Die Verteidigung wird am 3. Mai mit ihren Plädoyers beginnen.

Das Urteil ist für Mitte Mai geplant.

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