Prozess gegen John Demjanjuk:Schuld ja, Strafe nein

Der Prozess gegen John Demjanjuk nähert sich nach 17 Monaten dem Ende. Nun haben die Nebenkläger ihre Plädoyers gehalten. Alle halten die Schuld des Angeklagten für erwiesen - doch einer überrascht mit seiner Milde.

R. Probst

Die ersten drei Sitzreihen sind für die Nebenkläger und ihre Angehörigen reserviert. Nach mehr als 17 Monaten waren am Mittwoch wieder zahlreiche NS-Opfer aus den Niederlanden angereist. Zum Prozessauftakt in der Strafsache gegen John Demjanjuk hatten sie Ende 2009 ihr bewegendes Schicksal schildern dürfen, wie sie Eltern, Großeltern und Geschwister in den Gaskammern des Vernichtungslagers Sobibors verloren. Nun kehrten sie zurück, um ihre Schlussworte zu sprechen.

Prozess gegen John Demjanjuk wird fortgesetzt

Die Staatsanwaltschaft wirft dem gebürtigen Ukrainer John Demjanjuk Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen vor. Vor 67 Jahren, im Sommer 1943, soll er im deutschen Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen Tausende Juden aus Deportationszuegen, die aus den Niederlanden eintrafen, in die Gaskammern getrieben haben.

(Foto: dapd)

Einig waren sie alle in der Auffassung, dass der gebürtige Ukrainer als schuldig zu gelten habe; schuldig, der SS im Jahr 1943 bei der Ermordung von mehr als 27.900 Juden im Vernichtungslager Sobibor bereitwillig geholfen zu haben. Doch keine Einigkeit herrschte unter den betagten Nebenklägern über das mögliche Strafmaß. Auf Beihilfe zum Mord stehen bis zu 15 Jahre Gefängnis, Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz hatte im März eine Gesamtstrafe von sechs Jahren gefordert. Die Verteidigung hält Demjanjuk für unschuldig.

Als Erster trat Jules Schelvis, 90, an das kleine Stehpult im Justizpalast. Der gelernte Buchdrucker hat zahlreiche KZ und die Vernichtungslager Sobibor und Auschwitz-Birkenau überlebt. Im Juni 1943 traf er mit einem der berüchtigten Deportationszügen in Sobibor ein, zusammen mit seiner Frau. Er war damals 22 Jahre alt - ebenso alt wie damals der Wachmann Demjanjuk.

Wie durch ein Wunder konnte Schelvis das Todeslager aber kurz darauf mit einem Arbeitskommando aus 81 Juden verlassen - seine Frau Rachel wurde wenig später ermordet, ebenso wie 40 weitere Familienangehörige. Als einer von ganz wenigen Sobibor-Überlebenden (etwa 50 Juden gelang bei einem Aufstand im Oktober 1943 die Flucht) ist es Schelvis seit Jahrzehnten ein Anliegen, "die Wahrheit über Sobibor ans Licht zu bringen und dass Gerechtigkeit geschehen wird".

Erneut schilderte er betont nüchtern seine bewegende Lebensgeschichte; seit langer Zeit stelle er sich die Frage: "Wie kommen Menschen dazu, weit entfernt vom Kriegsschauplatz, bedenkenlos Tausende ihnen völlig unbekannte Personen in den Tod zu jagen? Nun einer von ihnen liegt hier regungslos in diesem Saal, ohne eine Antwort auf meine Frage zu geben."

Nach den "überzeugenden Ausführungen" des Staatsanwalts gebe es keinen Zweifel: "John Demjanjuk war Wachmann in Sobibor." Gleichwohl beantragte Schelvis, den Angeklagten zwar schuldig zu sprechen - ihn aber straffrei ausgehen zu lassen. Dies gebiete ihm seine humanistische Erziehung, sagte Schelvis.

Er verwies darauf, dass Demjanjuk bereits mehr als acht Jahre in Israel in Haft saß, als man ihm in den 1980er Jahren den Prozess machte, "Iwan der Schreckliche" aus dem Todeslager Treblinka gewesen zu sein - was sich allerdings später als Irrtum herausstellte. (Ein Schuldspruch ohne Strafe ist bei Beihilfe zum Mord nach deutschen Recht freilich nicht möglich.)

"Man lernt nie, mit dem Verlust zu leben"

Diese milde Einstellung von Schelvis wird allerdings von keinem anderen der Nebenkläger geteilt. Die meisten stellten das Strafmaß in das Ermessen des Gerichts, einige aber forderten durchaus auch die Höchststrafe - in diesem Fall wären das 15 Jahre Gefängnis.

Prozess gegen John Demjanjuk wird fortgesetzt

Jules Schelvis (li.) ist einer der Nebenkläger im Prozess gegen Demjanjuk (re.). Er verlor im Vernichtungslager Sobibor seine Frau und 40 Verwandte.

(Foto: dpa)

Rob Cohen, 85, etwa sagte, seiner Meinung nach könne eine "gerechte Strafe" nur die Höchststrafe sein. Cohen, der selbst 27 Monate in KZ und Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau überlebt hat und in Sobibor Eltern und einen Bruder verlor, betonte, er habe diesen Verlust, der wie ein Schatten über seinem Leben liege, nie verarbeiten können. Gleichwohl habe er "keine Rachegefühle".

Ebenso hätte Rob Wurms die Höchststrafe gefordert. Sein Anwalt Michael Koch trug dessen Schlussvortrag vor - der 68 Jahre alte Niederländer war vor wenigen Wochen gestorben, seine Frau und seine Tochter waren an seiner Stelle nach München gereist. Wurms Schwestern waren im Alter von 13 und 15 Jahren in Sobibor ermordet worden.

Wurms war für ein hartes Urteil. "Er hätte gehofft und gebetet, dadurch wenigstens einen Verbrecher in spe davon abzuhalten, ein Massenmörder zu werden", sagte Koch.

Der Reihe nach trugen viele der Nebenkläger in ihren emotionalen Reden die Geburts- und Sterbedaten ihrer Angehörigen vor, einige sprachen auch in bewegenden Worten davon, wie sehr sie die Geschehnisse belasten. "Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an die Shoah denke", sagte etwa Marcus de Groot, Jan Goedel, der als Waisenkind aufwuchs, sprach von den "bleibenden Wunden". "Man lernt nie, mit dem Verlust zu leben", betonte Max Degen.

Breiten Raum nahm bei den NS-Opfern das beharrliche Schweigen des Angeklagten zu den Vorwürfen ein. Rudi Westerveld sprach von dessen "total respektlosen Verhalten". Rob Fransmann kritisierte, Demjanjuk habe sich kein einziges Mal "herabgelassen zu sprechen und sein Bedauern für die Opfer" kundzutun. Er hält das Schweigen des Angeklagten darum für eine "Beleidigung" der Nebenkläger und der Opfer. De Groot wiederum betonte: "Wer schweigt, bejaht."

Der mittlerweile 91 Jahre alte Angeklagte verfolgte den Prozesstag wie immer regungslos von einem Spezialbett aus - von den Emotionen im Saal schien er gänzlich unberührt.

Die Verteidigung wird ihr Plädoyer Anfang Mai halten, das Urteil soll ebenfalls im Mai fallen.

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