Prozess gegen die U-Bahn-Schläger:Die Wut kennt kein Gesetz

"Der könnte mein Opa sein": Am ersten Prozesstag zeigen die beiden Münchner U-Bahn-Schläger Reue, eine Erklärung für ihre Tat aber können sie selbst nicht finden.

Joachim Käppner

Der Angeklagte legt ein Gelübde ab, seine Stimme wird ernst: "Wenn ich wieder rausgehe, dann trinke ich nie mehr so viel. Maximal zwei, drei Bier am Wochenende." Freilich kann es sehr lange dauern, bis Spyridon L. am Wochenende wieder rausgeht zu seinen Kumpels auf zwei Bier oder auch drei; zehn Jahre, wenn er Pech hat. An jenem Abend kurz vor Weihnachten waren es acht Bier.

Prozess gegen die U-Bahn-Schläger: "Ich denk' mir: scheiße, was hab' ich gemacht, der könnte mein Opa sein": Die Angeklagten Spyridon L. (links) und Serkan A. (rechts)

"Ich denk' mir: scheiße, was hab' ich gemacht, der könnte mein Opa sein": Die Angeklagten Spyridon L. (links) und Serkan A. (rechts)

(Foto: Foto: Getty/ddp)

"Herr Richter", sagt Spyridon L., "jeder ist anders, wer besoffen ist. Manche weinen, wenn sie trinken, andere reden viel. Ich werde aggressiv, eine Kleinigkeit reicht, damit ich jemand haue mit Schlägerei."

L. spricht deutsch, genug, um zu verstehen, dass Staatsanwalt Laurent Lafleur ihn und seinen Freund Serkan A. am Montag im Münchner Landgericht wegen versuchten Mordes anklagt. Eine Kleinigkeit reicht, hat L. gesagt, und an jenem Abend geriet er mit einem alten Herrn aneinander, der ihn aufforderte, nicht in der U-Bahn zu rauchen. Kurz danach, in der Station Arabellapark, lag der Mann am Boden, und Spyridon L. "nahm Anlauf und trat aus dem vollen Lauf heraus mit seinem beschuhten Fuß kraftvoll und mit voller Wucht nach Art eines Fußballers gezielt gegen den Kopf des hilflos am Boden Liegenden".

So formuliert es Staatsanwalt Lafleur in seiner Anklage, und noch darin schwingt die Wucht der Videobilder mit, die die ganze Republik schockierten, den hessischen Wahlkampf vergifteten und eine breite Debatte darüber entzündeten, ob der Staat nicht zu viel Herz für jugendliche Intensivtäter habe. Eine Überwachungskamera hat den Überfall lückenlos dokumentiert.

Nun haben die beiden schemenhaften Figuren des Videos ein Gesicht. Der Grieche Spyridon L., 18 Jahre alt, stämmig und stark; Serkan A., der 21-jährige Türke, hager und zäh, mit traurigen dunklen Augen. Es gibt nichts zu leugnen an diesem ersten Prozesstag, aber auch wenig zu verstehen. Vor allem verstehen sich die Angeklagten, wenn man ihnen glauben darf, selbst nicht. Beide sind geständig und bekunden Reue.

Serkan A., in München geboren, lässt seinen Anwalt eine Erklärung vorlesen, in der es heißt: "Ich kann nicht verstehen, warum ich so etwas getan habe." Er schildert sich freilich eher als L.'s Mitläufer, und das Opfer habe nach dem Streit in der U-Bahn zu den beiden gesagt: "Ihr seid das Volk, das hier Stress macht und rausgehört." L. wiederum will nur noch vage Erinnerungen an die Tat haben. Diese sei "richtig scheiße und traurig. Ich bin enttäuscht, von mir selbst. 76, ich denk' mir: scheiße, was hab' ich gemacht, der könnte mein Opa sein."

Es ist die Sprache der Straße, aber auch einer großen Fremdheit: zu diesem Gericht, dieser Gesellschaft, zu ihrer Ordnung. Für Hubert N. war Ordnung das ganze Leben, Hubert N., der als "Bruno, der Rentner" bundesweit bekannt wurde, obwohl sein Rufname Hubert lautet und er pensionierter Schuldirektor ist.

Die Wut kennt kein Gesetz

Ein Mann mit Autorität, dessen Wort galt bei jungen Menschen und Ordnung in ihre Welt brachte. Aus der Welt von Spyridon L. und Serkan A. aber war die Ordnung längst verschwunden, zwei Außenseiter, der Polizei lange aufgefallen, deren Welt aus Trinken, Abhängen, eben der Straße bestand. Er ermahnt sie in der U-Bahn, er ist im Recht, wie so oft in seinem Leben, das aus Lehren und Belehren besteht, doch an diesen beiden ist noch jede Belehrung abgeprallt. Spyridon versteht nur: "Einer steht vor mir und macht Stress."

"Man kann nicht weglaufen"

Das Gericht braucht einige Stunden, um zur Sache zu kommen. Die Verteidiger wollen die Öffentlichkeit ausschließen, damit die beiden Jungs sich "durch die Berichterstattung nicht wie Helden fühlen", sagt Wolfgang Kreuzer, L.'s Anwalt. Sein Mandant war zur Tatzeit noch 17. Kreuzer trägt noch vor, auch die Heldenfiguren in den Epen Homers seien nach heutigem Verständnis Verbrecher.

Staatsanwalt Lafleur kontert, er sei in klassischer Geschichte nicht so bewandert wie der Herr Verteidiger und könne sich vielleicht deshalb an keine griechische Heldensage erinnern, in der zwei junge Männer den Ruhm der Nachwelt ernten, indem sie einen alten halb zu Tode treten. Der Antrag wird abgelehnt.

Als aber das Juristengeplänkel abebbt, als zumindest Spyridon L. sich bemüht, die behutsamen Fragen von Richter Reinhold Baier zu beantworten, wird die Fremdheit dieses jungen Lebens mit jedem Satz deutlicher. Er und Serkan A. leben in einer der schönsten Städte des Landes und doch in einer ganz anderen, selbstzerstörerischen, sich um Perspektive nicht kümmernden Welt, eine randständige Existenz, nicht erreichbar für Jugendämter und wohlmeinende Institutionen.

Und als ihr Leben mit der Welt draußen kollidiert, kommt es zur Katastrophe. Die grobkörnigen Videobilder der beiden jungen Männer sind dabei zu Chiffren des Bösen geworden, der Urängste von Millionen Bürgern, zum Manipulationsobjekt von Politikern.

Es wirkt, als hätten die beiden den alten Schuldirektor gar nicht als Person wahrgenommen, sondern als Sendboten einer Ordnung, an der sie keinen Anteil haben und die sie weder verstehen noch verstehen wollen. Spyridon L. sagt: "Ich habe den Mann gar nicht richtig gesehen." Er tötet ihn beinahe und hat ihm nicht mal ins Gesicht gesehen.

Zwei Tage nach dem Überfall und einen Tag, bevor ihn ein Spezialeinsatzkommando der Polizei aus der Wohnung zerrt, zettelt Spyridon L. noch eine Schlägerei an. Jemand habe seine Freundin "angemacht". Spyridon L. sagt, als sei dies in seinem Leben ein Gesetz: "Solche Sachen, mit Freundin. Man kann nicht einfach weglaufen." Solche Sachen. Also kämpft man. Ohne zu wissen, gegen was eigentlich. Also schlägt man zu und tritt einen alten Mann mit Füßen, bis er beinahe stirbt. Ohne zu wissen, wer er eigentlich ist.

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