Prozess:Aussage als Zeugin: Muslimin muss Schleier ablegen

Lesezeit: 3 min

  • Ein 59-Jähriger stand vor Gericht, weil er eine vollständig verhüllte Muslimin beleidigt haben soll.
  • Die Aussagen standen jedoch gegeneinander.
  • Die Richterin zwang die Frau dazu, für ihre Aussage den Schleier abzulegen.

Von Christian Rost, München

Die strenggläubige Muslimin trägt einen Schleier, der ihr Gesicht vollständig verhüllt. Um keine Haut zu zeigen, hat sich die 43-Jährige auch Handschuhe angezogen. So erscheint sie am Donnerstag am Landgericht München I. Als Zeugin muss sie im Prozess gegen einen Mann aussagen, der sie beleidigt haben soll wegen ihrer Kleidung.

In einem ersten Prozess am Amtsgericht weigerte sich die Frau noch, vor dem Richter ihren Schleier abzulegen - obwohl der Vorsitzende ihre Aussage von Angesicht zu Angesicht hören wollte, um sie so besser bewerten zu können. Er resignierte schließlich und ließ sie gewähren, sie behielt den Schleier an. Nun, in der zweiten Instanz, wird die Zeugin gezwungen, dem Gericht ihr Gesicht zu zeigen. Für die 22. Strafkammer ist das ein Balanceakt, für das Urteil aber wichtig.

Auf der Anklagebank sitzt ein 59-jähriger Architekt. Er soll der Frau gegenüber grob ausfallend geworden sein. Als sie am Hauptbahnhof auf eine S-Bahn wartete, forderte sie zunächst eine Mutter mit Kind auf, sich nicht so zu kleiden, wie ein Zeuge berichtet. Dann sei der Angeklagte an die in Deutschland aufgewachsene Tunesierin herangetreten und habe ebenfalls gesagt, sie solle sich "so nicht anziehen".

Wie beide Seiten jeweils die Situation schildern

Staatsanwalt Wolfram Schütz wirft ihm vor, noch viel derber geworden zu sein: "Ihr Arschlöcher" und "Du gehörst nicht hierher" soll er zu der Frau gesagt haben, die ihn wegen Beleidigung anzeigte. Der Architekt weist den Vorwurf zurück. Er sei liberal, seine Familie helfe Asylbewerbern, sagt er. "Ich habe überhaupt nichts gegen Muslime."

Es sei vielmehr so gewesen, dass die Frau ihn angesprochen habe. "Gehen Sie weg, blöder Mann", habe sie gesagt und: "Immer diese intoleranten Deutschen." Das habe er nicht unkommentiert stehen lassen wollen und deshalb zurückgegeben: "Das stimmt nicht. Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, dann gehen Sie doch dorthin, wo Sie herkommen sind." Ein weiterer Zeuge kann sich weder an diese Aussage noch an Beleidigungen des Angeklagten erinnern. Das Gericht unter dem Vorsitz von Claudia Bauer muss deshalb die Muslimin hören.

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Um eine Situation wie am Amtsgericht zu vermeiden, hat es sich vorab die Expertise eines Islam-Rechtsgelehrten besorgt, wonach das Ablegen der Niqab, also des Gesichtsschleiers, vor Justizorgangen und Strafverfolgungsbehörden erlaubt sei. Doch als die vollverschleierte Frau den Gerichtssaal betritt, ist sofort klar, dass eine Expertise allein sie nicht von ihren Grundsätzen abbringen kann. Beobachtet von vielen Journalisten tritt die 43-Jährige tief schluchzend an den Zeugenstuhl heran. Ein Anwalt begleitet sie und legt ein Attest vor: Die Frau leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, das Gericht möge sie behutsam behandeln.

Warum die Frau den Schleier doch ablegte

Die Richterin spricht die Frau aber direkt auf das Hauptproblem an: den Schleier. "Ich muss Sie identifizieren können. Und es ist auch wichtig, dass wir Sie während der Aussage sehen", sagt Bauer. Die Zeugin hat sich inzwischen beruhigt und sagt entschlossen, in Gegenwart des Mannes, der sie angegriffen habe, könne sie den Schleier nicht öffnen. "Das verbietet meine Religion." Die Richterin weist sie darauf hin, dass Zeugen vor deutschen Gerichten verpflichtet sind, so auszusagen, dass alle sie sehen können. "Ich kann nicht", gibt die Muslimin zurück.

Bauer wird nun bestimmter im Ton: "Ich bin verpflichtet, die Wahrheit herauszufinden. Sie können für die Dauer der Sitzung aber auch in Ordnungshaft gehen." Alternativ könne die Frau ihre Anzeige zurücknehmen und die Verfahrenskosten tragen - das will die Zeugin keinesfalls. Sie stellt sich direkt vor die Richterin und lüftet ihren Schleier. Auf dem Zeugenstuhl nimmt sie unverschleiert erst Platz, als ihr der Angeklagte den Rücken zugewandt hat und sie nicht sehen kann. Dann bestätigt sie, dass der Architekt sie in Fäkalsprache beleidigt habe. Das passiere ihr öfter, sagt die Frau, sie werde auch angespuckt von manchen Leuten.

Die Beweise gegen den Angeklagten reichen dennoch nicht aus - weil zwei Aussagen gegen die Aussage der Muslimin stehen. Der Staatsanwalt beantragt Freispruch, Verteidiger Tom Heindl schließt sich an. Und entschuldigt sich bei der Zeugin. Seinetwegen hätte sie den Schleier nicht ablegen müssen, so der Anwalt. Das Gericht spricht den Architekten frei.

© SZ vom 18.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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