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Projekte:Sicherheitsglas

Soziale Kontakte, trotz Social Distancing: Bianca Taube, 26, und ihre "Fenstergast"-Fotoreihe

Von Aylin Dogan

Manchmal ist Bianca Taube, 26, zu klein für das Fenster im Erdgeschoss. Sie ist 1,82 Meter groß, aber gegen höher gelegene Fenster im Hochparterre hat selbst sie keine Chance. Manchmal stellen die Models ihr darum eine Leiter hin, damit sie leichter durch die Fenster schauen kann. Dort posen die Models für Biancas Kamera, und sie macht Porträts, die für sich sprechen. Die Bilder sind klar, ohne große Inszenierung, oft schwarz-weiß oder in Sepia-Farben getaucht. Sie besitzen etwas Melancholisches, auch wenn die fotografierten Personen lächeln. Vielleicht ist das Melancholische aber auch der momentanen Situation und den damit einhergehenden Bedingungen bei diesen Shootings geschuldet. "Normalerweise kommen die Leute für die Porträts zu mir nach Hause", sagt Bianca. "Aber das geht jetzt nicht mehr."

Erst durch die Corona-Krise kam Bianca die Idee zu ihrer "Fenstergast"-Reihe. Der Gast am Fenster ist dabei sie selbst, als solcher zieht sie seit einigen Wochen durch München, schaut bei den Fenstern verschiedenster Menschen vorbei und fotografiert sie durch ihre Scheiben. Die Spiegelungen der Außenwelt fallen dabei auf die Gesichter der Porträtierten. Sie blicken raus, auf ihre Innenhöfe, auf die Straßen vor ihren Haustüren, die mit Leben gefüllt sein könnten - wenn es der momentane Zustand zulassen würde. Und sie blicken auf Bianca, die durch das Objektiv der Kamera in ihren Privatraum, in ihren sicheren Zufluchtsort blickt und auf den Auslöserdrückt. Ein kurzer Fenstergast-Besuch, unter Einhaltung der geltenden Sicherheitsmaßnahmen.

"Ich glaube, ich habe noch nie so viele Instagram-Storys von Menschen aus ihren Wohnzimmern gesehen wie im Moment. Die sind jetzt alle zu Hause eingesperrt und haben quasi - auch wenn das vielleicht übertrieben klingt - nur noch dieses Fenster zum rausschauen. Und ich fand die Idee irgendwie schön, die Leute da zu fotografieren, wo sie gerade einfach nicht weg können", sagt Bianca.

Durch einen Aufruf über ihre sozialen Kanäle, zum Beispiel über ihren Instagram-Account @erstesahne_blog, wurde die Idee dann zur Realität. "Wir lassen dieses Virus nicht an unsere gute Laune", schreibt sie dort. Wer in einem Erdgeschoss in München wohne, könne sich für ein Shooting bei ihr melden.

Die Fotografie ist nur Biancas Nebenjob. Hauptberuflich arbeitet sie als Nachrichtenredakteurin. "Ich bin in der Arbeit ständig mit dem Coronavirus beschäftigt. Und dann gehst du nach der Arbeit nach Hause und das Thema geht trotzdem die ganze Zeit weiter. Durch die Shootings kann ich mich auf andere Leute einlassen und meinen Kopf ausschalten", sagt sie. Und das, obwohl es bei den Gesprächen mit den Porträtierten dann auch wieder nur ein Thema gibt: Corona. "Ich bin mit meinen Gedanken zu Hause viel alleine. Es ist beruhigend mitzubekommen, dass alle über die gleichen Dinge nachdenken, sich um die gleichen Sachen sorgen und sich aber auch gegenseitig Hoffnung machen."

Anfangs meldeten sich vor allem Freunde oder Bekannte bei Bianca. So auch Nora Zacharias, sie erinnert sich gut an die Fenster-Begegnung: "Durch den fixen Termin mit Bianca konnte ich mich auf einen richtigen Menschen freuen, den ich nicht über Zoom oder Skype sehe. Ich hatte einen Grund, mich mal wieder ein bisschen hübsch zu machen", sagt sie.

Nach den ersten Shootings und der Verbreitung ihrer Bilder bekommt Bianca nun eine höhere Reichweite. Mittlerweile kommt sie durch ihr Projekt auch in Kontakt mit Menschen, die sie davor noch nie in ihrem Leben gesehen hat. "Wenn ich die Leute nicht kenne, weiß ich nicht genau, worauf ich mich einlasse. Aber es ist tatsächlich faszinierend, wie entspannt es dann doch abläuft", sagt sie.

Bianca gibt bei den Treffen immer die gleichen Anweisungen. Die Personen sollen so nah wie möglich an die Scheibe, weil das Fenster sonst zu sehr spiegelt. Und dann dürfen sie entweder Bianca anschauen oder woanders aus dem Fenster blicken. "Das ist alles. Und das funktioniert wunderbar." Ungewöhnlich bleiben die Begegnungen dann aber irgendwie doch: "Es ist schon komisch. Wenn man sich so zehn Minuten unterhält, würde ja einer normalerweise fragen, ob man nicht reinkommen will."

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Quelle:
SZ vom 14.04.2020
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